Das Verkehrslexikon

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OLG Jena Beschluss vom 08.05.2006 - 1 Ss 60/06 -

OLG Jena v. 08.05.2006: Zu den notwendigen Urteilsfeststellungen bei der Geschwindigkeitsmessung mit dem "ProViDa"-System und zum Toleranzabzug


Das OLG Jena (Beschluss vom 08.05.2006 - 1 Ss 60/06) hat entschieden:
  1. Da das Messsystem ProViDa Police-Pilot verschiedene Einsatzmöglichkeiten zulässt (z. B. Messung aus stehendem Fahrzeug, Nachfahren oder Vorwegfahren mit konstantem Abstand, Weg-Zeit-Messung), die unterschiedliche Voraussetzungen und Folgen haben, ist der bloße Hinweis auf den Einsatz der Videoüberwachungsanlage ProViDa 2000 nicht ausreichend. Es muss vielmehr im Urteil das angewandte Messverfahren mitgeteilt werden.

  2. Die Rechtsprechung der Obergerichte geht einheitlich davon aus, dass beim System ProViDA Police-Pilot ein Toleranzabzug von 5 % der gemessenen Geschwindigkeit bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h ausreichend aber auch erforderlich ist.

Siehe auch Das Video-Messsystem ProViDa - Police-Pilot - Modular und Toleranzabzüge bei standardisierten Messverfahren zur Feststellung von Geschwindigkeitsverstößen


Zum Sachverhalt: Nach Einspruch gegen einen entsprechenden Bußgeldbescheid verurteilte das Amtsgericht Gera den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 42 km/h zu einer Geldbuße von 100,- € und ordnete ein Fahrverbot von 1 Monat Dauer an.

Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betroffenen hatte - vorläufigen - Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... Das Amtsgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:
„Am 11.05.2005 um 7.49 Uhr befuhr der Betroffene mit dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... die A 4 Richtung E. Zwischen den Anschlussstellen R. und G.L. wurde durch das zur Tatzeit geeichte Messgerät ProViDa 2000 eine Geschwindigkeit von 176 km/h abzüglich Toleranz 172 km/h festgestellt.

Die Geschwindigkeit war an dieser Stelle durch das Verkehrszeichen 274 auf 130 km/h beschränkt. Damit hat der Betroffene eine fahrlässige Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaft um 42 km/h begangen.

Der Betroffene handelte fahrlässig, denn bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte er das Verkehrsschild erkennen und die Geschwindigkeitsüberschreitung vermeiden können.“
Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht folgendes dargelegt:
„Der festgestellte Sachverhalt beruht auf der im Wesentlichen geständigen Einlassung des Betroffenen, der Aussage des Zeugen POM J., dem in der Hauptverhandlung in Augenschein genommenen Video sowie dem dem wesentlichen Inhalt nach bekannt gegebenen Eichschein.

Der Betroffene lässt sich dahin ein, er hätte das Verkehrsschild 130 km/h übersehen. Ausweislich des in Augenschein genommenen Videos bestätigt sich durch die Aussage des POM J. konnte festgestellt werden, dass vor der Messung sich ein 130 km/h-Schild beidseitig befand. Bei dem handelt es sich nach der nachvollziehbaren und überzeugenden Aussage des POM J. um mindestens die zweite 130 km/h-Ausschilderung. Daher ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass der Betroffene bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt das Verkehrsschild hätte erkennen können.

Wie der Zeuge J. in der Hauptverhandlung durch Messen am Bildschirm festgestellt hat, hat sich das Fahrzeug des Betroffenen auch nicht dem ProViDa-Meßfahrzeug angenähert. Während zu Meßbeginn der Radabstand am Bildschirm 12,5 cm betrug, belief er sich am Meßende nur noch auf 11,3 cm. Damit konnte das Gericht keinerlei Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit der Messung feststellen. Es wurden auch keine weiteren Fehler seitens des Betroffenen geltend gemacht.

Zur Überzeugung des Gerichts liegt also eine fehlerfreie Messung vor.“
Die dargelegten getroffenen Feststellungen und die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung sind lückenhaft und widersprüchlich. Sie ermöglichen dem Senat nicht die sichere Nachprüfung, ob das Amtsgericht seine Überzeugung von der Geschwindigkeitsüberschreitung ohne Rechtsfehler gewonnen hat.

Die Geschwindigkeitsermittlung mittels der Video-Verkehrs-Überwachungsanlage ProViDa (Proof Video Data System; auch: Police-Pilot-System genannt) ist ein allgemein anerkanntes standardisiertes Messverfahren i. S. der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHSt 39, 291 ; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 3 StVO Rn. 61). Dabei genügt es in der Regel, wenn sich die Verurteilung wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf die Mitteilung des Messverfahrens und der nach Abzug der Messtoleranz ermittelten Geschwindigkeit stützt. Diese Angaben sind jedoch auch zwingend erforderlich. Erst die Angabe zum Messverfahren und zum berücksichtigten Toleranzwert, der sich aus der Angabe der gemessenen und der berücksichtigenden Geschwindigkeit ergeben kann, bildet die Grundlage einer ausreichenden und nachvollziehbaren Beweiswürdigung (BGH St 39, 291, 303; Senatsbeschluss vom 31.05.2005, 1 Ss 128/05 ).

Vorliegend nimmt das Amtsgericht zwar einen Toleranzabzug ohne unmittelbare Festlegung der Höhe oder des prozentualen Anteils vor, der sich unschwer mittelbar aus der Differenz der gemessenen und der berücksichtigten Geschwindigkeit bestimmen lässt. Das Urteil teilt aber nicht mit, mit welcher Messmethode die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung ermittelt worden ist. Dargelegt ist nur, dass eine Messung mittels der Videoverkehrsüberwachungsanlage ProViDa 2000 erfolgt ist. Da dieses Messsystem verschiedene Einsatzmöglichkeiten zulässt (z. B. Messung aus stehendem Fahrzeug, Nachfahren oder Vorwegfahren mit konstantem Abstand, Weg-Zeit-Messung, vgl. Löhle/Beck, DAR 1994, 465 , 475), die unterschiedliche Voraussetzungen und Folgen haben, ist der bloße Hinweis auf den Einsatz der Videoüberwachungsanlage ProViDa 2000 nicht ausreichend ( OLG Köln, DAR 1999, 516 ; OLG Hamm, DAR, 2002, 226, 227).

Welches Messverfahren angewandt worden ist, ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung. Wenn in der Beweiswürdigung mitgeteilt wird, das Fahrzeug des Betroffenen habe sich dem Messfahrzeug angenähert, spricht die Wortwahl „annähern“ eindeutig für eine Messung durch Vorausfahren, da ein Annähern eine bewusste Beeinflussung des Abstandes voraussetzt. Die Mitteilung der Radabstände wiederum würde bei einer Gesamtschau doch eher für eine Messung durch Nachfahren sprechen.

Die Kenntnis der Messmethode ist auch für die Beurteilung der Frage, ob der vom Amtsgericht mitgeteilte Toleranzwert zutreffend ist, wesentlich. Das Amtsgericht hat eine Toleranz von 4 km/h berücksichtigt, was in etwa einem Toleranzabzug von 2,28 % entspricht. Ein solcher Toleranzabzug ist jedoch, und zwar unabhängig von der Messmethode bei dem verwendeten Messgerät Provida 2000 nicht ausreichend. Insoweit geht nämlich die Rechtsprechung der Obergerichte einheitlich davon aus, dass ein Toleranzabzug von 5 % der gemessenen Geschwindigkeit bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h ausreichend aber auch erforderlich ist (vgl. BayObLG, NZV 2004, 49 ; OLG Düsseldorf, VRS 99, 297 ; OLG Naumburg, VRS 100, 201 ). Vorliegend würde sich bei einer gemessenen Geschwindigkeit von 176 km/h und einem Toleranzabzug von 5 % im Übrigen eine zu berücksichtigende Geschwindigkeit von 167,20 km/h ergeben, so dass eine grobe Pflichtverletzung im Sinne der Nr. 11.3.7 BKatV i. V. m. § 4 Abs. 1 Nr. 1 BKatV nicht gegeben und ein Regelfahrverbot nicht verwirkt wäre.

Ein Fall, dass auf die notwendigen Angaben zur Geschwindigkeitsmessung verzichtet werden konnte, liegt nicht vor. Der o. g. Angaben bedarf es nur dann nicht, wenn ein Betroffener uneingeschränkt und glaubhaft eingesteht, die vorgeworfene Geschwindigkeit - mindestens - gefahren zu sein (vgl. BGH, a.a.O.). ..."



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