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Verwaltungsgericht Berlin Urteil vom 28.09.2000 - 27 A 206.99 - Zur fehlender Rechtsgrundlage einer Radwegbenutzungspflicht bei notwendiger Veränderung der Grünphase

VG Berlin v. 28.09.2000: Zur fehlender Rechtsgrundlage einer Radwegbenutzungspflicht bei notwendiger Veränderung der Grünphase


Das Verwaltungsgericht Berlin (Urteil vom 28.09.2000 - 27 A 206.99) hat entschieden:

  1.  Die Anordnung der Radwegbenutzungspflicht gemäß § 2 IV 2 StVO ist nicht schon dann zwingend geboten im Sinne von § 45 IX StVO, wenn bei einer Mitbenutzung der Fahrbahn durch Radfahrer die Grünphase einer Ampel zur Erreichung angemessener Räumzeiten verkürzt werden muss.

  2.  Die Landesbehörden sind bei Anordnung der Radwegbenutzungspflicht gemäß § 2 IV 2 StVO im Rahmen ihres Ermessens an die Vorgaben der Verwaltungsvorschrift des Bundes (VwV-StVO) gebunden. Die Nichteinhaltung der VwV-StVO kann der betroffene Radfahrer als willkürlichen Eingriff in seinen Rechte (Art. 3 I GG) geltend machen.

Siehe auch
Radweg und Radwegbenutzung
und
Verkehrszeichen


Zum Sachverhalt:


Der Polizeipräsident in B. ordnete als Straßenverkehrsbehörde die Benutzungspflicht für bestimmte Radwege an zwei Kreuzungen mit der Begründung an, die Trennung der Radfahrer vom Kfz-Verkehr sei an diesen Kreuzungen erforderlich, weil diese so großräumig seien, dass die Berücksichtigung der Radfahrer-Räumzeiten zu erheblichen, unannehmbaren Leistungsverlusten der Lichtzeichenanlagen führten. Die mit Z. 237 versehenen Radwege erreichen nicht die in der VwV-StVO als Regelmaß bestimmte Breite; für die Abweichung von der VwV-StVO hat die zuständige oberste Landesbehörde eine Ausnahmegenehmigung nach der VwV zu § 46 II StVO erteilt.

Der Kl. wendete sich gegen die angeordnete Benutzungspflicht mit der Begründung, als leidenschaftlicher, zügig fahrender Radfahrer müsse er die betreffenden Strecken häufig nutzen und sei durch die Anordnung an seinen gewohnten zügigen Fahrweise gehindert.

Der Widerspruch gegen die Anordnung blieb erfolglos; seine Anfechtungsklage hatte dagegen Erfolg.




Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Klage ist als fristgerecht erhobene (§ 74 I VwGO) Anfechtungsklage zulässig. Verkehrszeichen sind Dauerverwaltungsakte in Form von Allgemeinverfügungen im Sinn des § 35 S. 2 VwVfG (vgl. BVerwGE 59, 221 [225 f]). Der Kl. ist klagebefugt. Hierzu genügt es, dass der Kl. als Radfahrer ein durch die angefochtene Verkehrsregelung betroffener Verkehrsteilnehmer ist; dieser kann geltend machen, dass die rechtssatzmäßigen Voraussetzungen für die angefochtene Verkehrsregelung nicht gegeben seien (vgl. BVerwGE 92, 32 [351), zumal es wegen der Nähe seines Wohnortes zu dem von der angefochtenen Regelung betroffenen Bereich naheliegt, dass der 1(1. die der Radwegbenutzungspflicht unterliegende Strecke tatsächlich und häufig benutzt.

Die Klage ist auch begründet. Die angegriffenen Verkehrszeichen sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 I 1 VwGO). Die Voraussetzungen, unter denen für die hier streiterheblichen Straßenabschnitte eine Radwegbenutzungspflicht angeordnet werden konnte, liegen nicht vor.

Bei der rechtlichen Beurteilung ist zunächst davon auszugehen, dass es nach Aufhebung der grundsätzlichen Radwegbenutzungspflicht durch die seit dem 1. 10. 1998 geltende Neufassung des § 2 IV StVO grundsätzlich zulässig ist, dass Radfahrer nicht einen vorhandenen Radweg, sondern die Fahrbahn benutzen. Die Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht durch Zeichen 237 zu StVO stellt sich damit nicht nur als Gebotsregelung, sondern - durch den Ausschluss der Nutzung der Fahrbahn - zugleich als Verbotsregelung und damit als eine die Straßenbenutzung durch den fließenden (Fahrrad-)Verkehr beschränkende Maßnahme dar. Denn die durch Zeichen 237 StVO angeordnete Radwegbenutzungspflicht verbietet dem zuvor zulässigerweise die Fahrbahn benutzenden Radfahrer, weiter auf der Fahrbahn zu fahren und steht insoweit hinsichtlich der Fahrbahnbenutzung dem stets als Verkehrsbeschränkung anzusehenden Zeichen 254 StVO gleich.




Rechtsgrundlage für die Aufstellung der Zeichen 237 ist damit zunächst neben 39 I StVO auch § 45 I 1 StVO, wonach die Verkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs beschränken oder verbieten können. Hinsichtlich der Anforderungen, die an die Eingriffstatbestände des § 45 I bis I d StVO zu stellen sind, ist durch Verordnung vom 7. 8. 1997 (BGBl. I, 2028) folgender Abs. 9 in § 45 StVO eingefügt worden:

   „Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt ...”

Nach dieser Bestimmung setzt eine verkehrsbehördliche Anordnung, die wie die hier angefochtene Radwegbenutzungspflicht (§ 2 IV 2 StVO) eine sonst zulässige Benutzung bestimmter Straßenstrecken für Radfahrer beschränkt, das Vorhandensein besonderer, zu einer solchen Regelung zwingender Umstände voraus (normative Umsetzung bzw. Verschärfung der schon für das vor Inkrafttreten dieser Bestimmung geltende Recht einschlägigen Rechtsprechung [BVerwG Buchholz 442.151 § 45 StVO Nr. 8, S. 26], vgl. zu § 45 IX StVO auch OVG Bremen, NZV 2000, 140; OVG Hamburg NZV 2000, 346 und VGH Kassel, NZV 99, 397). Solche Umstände sind nach § 45 IX 2 StVO nur bei einer auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse bestehenden außergewöhnlichen Gefahrenlage gegeben. Diese hohen normativen Anforderungen hat der Bekl. bei der angefochtenen Anordnung der Radwegbenutzung nicht beachtet (hierzu unter 1); darüber hinaus ist die Anordnung der Radwegbenutzungspflicht auch schon deshalb rechtswidrig, weil hierfür die Voraussetzungen der zwar nur verwaltungsinternen. aber das Ermessen der Straßenverkehrsbehörden für solche Anordnungen bundeseinheitlich bindenden Verwaltungsvorschriften zu § 2 IV 2 StVO (VkBl. 99) - VV - StVO - nicht vorliegen (hierzu unter 2).

1. Der Bekl. hat die angefochtene Maßnahme im Klageverfahren im wesentlichen damit gerechtfertigt, dass die Anordnung der Radwegbenutzungspflicht die im Kreuzungsbereich der Hauptverkehrsstraßen mit außergewöhnlichem Abbiegeverkehr entstehenden Gefahren für Radfahrer minimieren solle und zugleich kürzere Räumzeiten für die ampelgeregelten Kreuzungen zur Vermeidung von Staubildungen und Abgasbelästigungen im Fahrzeugverkehr erreicht werden sollten.

Es liegt auf der Hand, dass diese Begründung den besonderen Anforderungen des § 45 IX StVO nicht standhalten kann. Es ist zwar nicht zu verkennen, dass die vom Bekl. genannten Gründe unter der Voraussetzung einer gefahrlosen Benutzung des Radwegs zur Erreichung der aufgeführten Ziele förderlich sein könnten, doch fehlt es bereits an dem gesetzlichen Erfordernis des § 45 IX 1 StVO, dass die Maßnahme „auf Grund der besonderen Umstände zwingend geboten ist”.

Die Kammer kann bereits das Vorliegen „besonderer Umstände” nicht erkennen. Soweit im Widerspruchsbescheid davon ausgegangen wird, dass Radfahrer bei Benutzung der Fahrbahn dann „erheblichen zusätzlichen Gefahren” ausgesetzt seien, wenn es sich um eine bevorrechtigte Straße handele und eine der hier sämtlich gegebenen weiteren Voraussetzungen - Höchstgeschwindigkeit über 50 km/h, mehr als zwei Fahrstreifen für den fließenden Verkehr, eine im Verhältnis zu der Zahl der dem fließenden Verkehr zur Verfügung stehenden Fahrstreifen hohe Kraftfahrzeugverkehrsbelastung, Staubildungen - vorliege, genügt das den Anforderungen an das Vorliegen „besondere Umstände” für die Anordnung der hier streitigen Radwegbenutzungspflicht schon deshalb nicht, weil diese Gefahrenlage der angefochtenen Anordnung nicht zugrundegelegt worden ist. Denn es ist lediglich der Radwegbereich vor den beiden Kreuzungen, nicht etwa der Radweg auf der gesamten Länge der L/Sch-Straßen - für den die genannten Voraussetzungen ebenfalls zutreffen - für benutzungspflichtig erklärt worden. Entsprechend den Ausführungen im Klageverfahren war für die streitige Anordnung vielmehr die Verkehrssituation im Kreuzungsbereich maßgeblich. Diese weist allerdings keine erkennbaren Besonderheiten auf. Denn vergleichbare ampelgeregelte Kreuzungen zwischen Hauptverkehrsstraßen sind in B. häufig, es gibt keinen Anhaltspunkt, dass die dabei entstehenden Gefahren für den Radverkehr erheblich anders zu beurteilen wären als die Situation an den hier streitigen Örtlichkeiten. Die einzige vorliegende Besonderheit zu anderen Kreuzungen von Hauptverkehrsstraßen liegt darin, dass eine der kreuzenden Straßen im vorliegenden Fall einen Radweg im Kreuzungsbereich aufweist. Dass hierfür die Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht nicht „zwingend geboten”, also die zur Gefahrenabwehr unbedingt erforderliche und allein in Frage kommende Möglichkeit ist, wird bereits dadurch belegt, dass die im Kreuzungsbereich von Hauptverkehrsstraßen entstehenden Gefahren für den Radverkehr andernorts nicht dazu geführt haben, dass - sei es durch Anlage von Radwegen oder durch besondere Radspuren - eine Entmischung des Verkehrs herbeigeführt worden wäre; so sind die vorliegend kreuzenden Straßen jeweils mehrspurige Hauptverkehrsstraßen ohne Radweg oder Radspur. Nimmt die Verkehrsbehörde auf diesen beiden Straßen die im Kreuzungsbereich bestehenden Gefährdungen für Radfahrer ohne jede Verkehrsregelung hin, kann von einer zwingenden Erforderlichkeit, die für die die gleiche Kreuzung querenden Straßen eine Radwegbenutzungspflicht anzuordnen, nicht ausgegangen werden.




Prinzipiell nicht mit § 45 IX StVO vereinbar ist das Bestreben des Bekl., durch die Radwegbenutzungspflicht eine Verkürzung der Grünphase zur Förderung des fließenden Fahrzeugverkehrs auf der dem Radweg parallelen Fahrbahn zu erreichen. Nach § 45 IX 2 StVO können Beschränkungen des fließenden Verkehrs - hier des Radverkehrs - ohnehin nur bei einer hier (wie dargestellt) nicht vorliegenden besonderen, das allgemeine Risiko für die Verkehrssicherheit erheblich übersteigenden örtlichen Gefahrenlage und nicht aus anderen Gründen angeordnet werden. Unabhängig davon ist die Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht zur Verkürzung einer Räumphase bei einer ampelgeregelten Kreuzung auch nicht auf Grund besonderer Umstände zwingend geboten, denn auch hier steht dem - wie oben ausgeführt - bereits entgegen, dass vergleichbare Maßnahmen schon bei den in Ost-West Richtung kreuzenden Straßen nicht angeordnet worden sind, dort also die Verlangsamung der Räumung der Kreuzung durch Radverkehr hingenommen wird, ohne dass erkennbar oder ersichtlich wäre, dass dort eine grundlegend andere Verkehrssituation vorliegen würde als in der L/Sch-Str.

Da somit die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Radwegbenutzung nicht vorliegen, ist es für die Entscheidung unerheblich, dass die Verwaltung gemäß § 46 II StVO bei Vorliegen einer an bestimmte Voraussetzungen geknüpften Gefährdung für nicht den Anforderungen der VV-StVO an die lichte Breite genügende Radwege Ausnahmen zugelassen hat. Denn die Regelung des § 46 II StVO gibt keine Befugnis dazu, von den normativen Voraussetzungen des § 45 1 1, IX StVO für den Erlass von verkehrsbehördlichen Anordnungen abzuweichen.

2. Selbst wenn der Bekl. mit der angefochtenen Anordnung nicht die zwingenden Voraussetzungen des § 45 IX StVO missachtet hätte, wäre die Anordnung rechtswidrig. Denn die Anordnung der Benutzungspflicht für die hier streitigen Radwege steht in Widerspruch zu den VV-StVO, die als bundeseinheitliche Regeln das Ermessen bei einer derartigen verkehrsbehördlichen Anordnung binden und deren Nichteinhaltung vom Kläger als willkürlicher Eingriff in seine Rechte (Art. 3 I GG 9 geltend gemacht werden kann.



Nach II Nr. 2 VV-StVO ist Voraussetzung für die Anordnung der Radwegbenutzungspflicht, das die Benutzung des Radwegs nach der Beschaffenheit und dem Zustand zumutbar sowie die Linienführung eindeutig, stetig und sicher ist. Vorausgesetzt wird „in der Regel” eine im vorliegenden Fall nicht vorhandene Breite von mindestens 1,5 m. Nur „ausnahmsweise und nach sorgfältiger Prüfung kann von den Mindestmaßen dann, wenn es auf Grund der örtlichen oder verkehrlichen Verhältnisse erforderlich und verhältnismäßig ist, an kurzen Abschnitten (z. B. kurze Engstelle) unter Wahrung der Verkehrssicherheit abgewichen werden”.

Diesen Anforderungen genügt der unter Benutzungspflicht gestellte Radweg ersichtlich nicht. Dabei kann dahinstehen, ob nicht schon der Umstand, dass der vor jeder Kreuzung auf einer Länge von mindestens 100 m für benutzungspflichtig erklärte Radweg durchgängig die erforderliche Breite nicht besitzt, dazu führt, dass nach der VV-StVO - die nach ihrem allerdings der „authentischen Interpretation” der Behörde unterliegenden (vgl. dazu BVerwG NJW 79, 2059) Wortlaut nur für kurze Abschnitte, nicht aber für die gesamte Wegstrecke eine Unterschreitung der Benutzungspflicht vorsieht - die Voraussetzungen für eine derartige Anordnung fehlen. Jedenfalls ist Voraussetzung für die Anordnung einer Benutzungspflicht, dass der benutzungspflichtige Radweg den Anforderungen an die Verkehrssicherheit genügt. Hieran fehlt es, wie die Ortsbesichtigung ergeben hat, gerade auch im Bereich der Kreuzungen an der M. bzw. R-Straße. (wird ausgeführt)

Nach alledem kann das Gericht nur feststellen, dass die benutzungspflichtig erklärten Radwegabschnitte keinesfalls als verkehrssicher - nämlich eine ungehinderte Fortbewegung unter weitergehender Ausschaltung vorhersehbarer Gefährdungen durch andere Verkehrsteilnehmer ermöglichend - anzusehen sind. Die Anordnung einer Radwegbenutzungspflicht scheidet deshalb von vornherein aus, sie steht auch dann, wenn von den in der VV-StVO genannten Anforderungen ausnahmsweise abgewichen werden soll, unter dem Vorbehalt der „Wahrung der Verkehrssicherheit”. ..."

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