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OLG Hamm Beschluss vom 04.12.2008 - 3 Ss OWi 871/08 - Zur Geschwindigkeitsmessung und zur Feststellung von Abstandsverstößen mit dem Gerät Provida - Police-Pilot

OLG Hamm v. 04.12.2008: Zur Geschwindigkeitsmessung und zur Feststellung von Abstandsverstößen mit dem Gerät Provida - Police-Pilot


Das OLG Hamm (Beschluss vom 04.12.2008 - 3 Ss OWi 871/08) hat entschieden:
  1. Das ProVida-System findet sowohl zur Geschwindigkeits- als auch zur Abstandsmessung Gebrauch.

  2. Das Provida-System ist als standardisiertes Messverfahren für Geschwindigkeitsmessungen anerkannt, so dass es hinsichtlich der Geschwindigkeitsmessungen in den Urteilsgründen lediglich der Darstellung bedarf, dass nach dem ProVida-System gemessen, welches der nach diesem System möglichen Messverfahren (z.B. Messung aus stehendem Fahrzeug, Nachfahren mit konstantem Abstand, Weg-Zeit-Messung) angewandt und welcher Toleranzwert zugrunde gelegt wurde.

  3. Abstandsmessungen werden mit dem ProVida-Gerät mittels Durchtastens von Video-Halbbildern möglich, wobei die Zeitdifferenz gemessen wird, die zwischen dem Passieren eines markanten ortsfesten Punktes durch zwei dem Polizeifahrzeug vorausfahrende überwachte Fahrzeuge liegt.

  4. Die Abstandsmessungen im ProVida-System erfolgen folglich nicht elektronisch, sondern unter Auswertung der Videoaufzeichnungen anhand der darauf erkennbaren Fixpunkte, so dass das Verfahren insoweit nicht standardisiert ist. Das System versetzt den Tatrichter vielmehr in die Lage, die Beobachtungen der Polizeibeamten im Wege des Augenscheinsbeweises unmittelbar und in Anwesenheit der Prozessbeteiligten im Gerichtssaal nachzuvollziehen, insbesondere Abstände zwischen Fahrzeugen anhand der bei der Videoprojektion erkennbaren Fixpunkte zuverlässig zu berechnen. Da die Abstände - anders als die Geschwindigkeiten - nicht elektronisch gemessen, sondern unter Auswertung des Videobandes errechnet werden, genügt jedoch nicht die Bezeichnung des Verfahrens, sondern die Auswertung und Berechnung müssen, um eine Überprüfung zu ermöglichen, in den Urteilsgründen verständlich und widerspruchsfrei dargelegt werden.

Siehe auch Das Video-Messsystem ProViDa - Police-Pilot - Modular und Toleranzabzüge bei standardisierten Messverfahren zur Feststellung von Geschwindigkeitsverstößen


Aus den Entscheidungsgründen:

"I.

Gegen den Betroffenen wurden durch Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 29.07.2008 wegen fahrlässiger Unterschreitung des erforderlichen Sicherheitsabstands gemäß §§ 4 Abs. 1, 49 StVO, 24 StVG eine Geldbuße in Höhe von 125,00 € sowie ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt.

Im Urteil des Amtsgerichts Bielefeld wird u. a. Folgendes ausgeführt:
"...

Am ... gegen ... Uhr befuhr der Betroffene mit dem PKW VW, Kennzeichen Nr. I, die BAB 2 in Fahrtrichtung I. Ihm folgten in gleichbleibendem Abstand die Polizeibeamten C2 und K mit einem Videowagen der Autobahnpolizei OWL mit ursprünglichem Kennzeichen M, welches inzwischen gegen das Kennzeichen C ausgetauscht wurde.

Das Fahrzeug ist ausgerüstet mit gültig geeichter Verkehrsüberwachungsanlage ProVida 2000 Modular (Eichdatum: 29.06.2007 mit Wirkung bis 31.12.2008).

Im Bereich C ab ca. km ... bis km ... beobachteten die Polizeibeamten über die im Fahrzeug installierte Video-Geschwindigkeitsmessanlage über eine Strecke von mindestens 2 Kilometern eine von dem Betroffenen gefahrene Mindestgeschwindigkeit von abgelesenen 127 km/h, abzüglich eines Toleranzwertes von 5 %, also mindestens 120 km/h.

Dabei hielt der Betroffene den erforderlichen Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug von 60 Metern nicht ein. Über die gesamte Nachfahrstrecke blieben Abstand und Geschwindigkeit ohne sichtbare Veränderung, ohne dass dies durch plötzlich einscherende Fahrzeuge oder auf andere Weise verkehrsbedingt veranlasst gewesen wäre.

Anhand der Bildzählwerkeinheit des aufgenommenen Videobandes ließen sich folgende Daten feststellen:

Bei Beginn einer deutlich sichtbaren neuen Fahrbahndecke stand das Zählwert bei 341071. Die Hinterachse des vorausfahrenden Fahrzeugs befand sich zu diesem Zeitpunkt vor der neuen Fahrbahndecke.

Bei dem Zählwerkstand von 341081 befand sich die Vorderachse des Fahrzeugs des Betroffenen auf der neuen Fahrbahndecke.

Die Differenz von 10 Einzelbildern entspricht bei der gemessenen Geschwindigkeit von 120 km/h einem Abstand von 13,33 Metern, aufgerundet einem Abstand von höchstens 13,4 Metern, und damit einem Abstand von weniger als 3/10 des halben Tachowertes.

Der Betroffene hat durch schriftliche Äußerung seines Verteidigers seine Fahrereigenschaft eingeräumt. Im Übrigen beruhen die getroffenen Feststellungen auf der ausweislich der Sitzungsniederschrift durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere der Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnung und der Zeugenaussage des Polizeibeamten K, der das Messverfahren entsprechend den obigen Feststellungen zur Überzeugung des Gerichts erläutert hat.

..."
Gegen dieses den Verteidigern des Betroffenen am 01.09.2008 zugestellte Urteil hat der Betroffene mit Schriftsatz seiner Verteidiger vom 30.07.2008, eingegangen bei dem Amtsgericht Bielefeld am selben Tag, Rechtsmittel eingelegt und dieses mit weiterem Schriftsatz seiner Verteidiger vom 11.09.2008, eingegangen bei dem Amtsgericht Bielefeld am selben Tag, als Rechtsbeschwerde bezeichnet und mit der Verfahrensrüge sowie mit der Verletzung materiellen Rechts näher begründet.


II.

Die frist- und formgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde hat auf die erhobene Sachrüge einen zumindest vorläufigen Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht Bielefeld.

Die Urteilsgründe tragen die Verurteilung des Betroffenen wegen eines fahrlässigen Verstoßes gegen die §§ 4 Abs. 1 S. 1, 49 Abs. 1 Nr. 4 StVO, 24 StVG nicht.

Die Gründe eines Urteils in Bußgeldsachen unterliegen zwar keinen hohen Anforderungen, sie müssen aber so beschaffen sein, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung ermöglicht wird (Göhler, OWiG, 14. Aufl., § 71 Rdnr. 42).

Ein Urteil, das sich mit einer Geschwindigkeits- und Abstandsmessung befasst, muss grundsätzlich feststellen, auf welcher tatsächlichen Grundlage die Geschwindigkeits-feststellung und die Abstandsmessung beruhen. Dazu gehören insbesondere Angaben darüber, ob die Messungen durch elektronische Aufzeichnungen oder durch Ablesen, durch stationäre Geräte oder aus einem fahrenden Fahrzeug erfolgten, wie lang gegebenenfalls die Verfolgungsstrecke und der Abstand des Polizeifahrzeugs zu dem verfolgten Fahrzeug waren, auf welche Fahrstrecke sich die Abstandsunterschreitung erstreckte und welcher Toleranzabzug bei der Feststellung der Geschwindigkeitsüberschreitung vorgenommen worden ist (Beschluss des 1. Strafsenats vom 11.03.2003 - 1 SsOWi 617/03 -; OLG Düsseldorf, VRS 99, 133).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nur teilweise gerecht.

Es teilt zwar mit, dass die Messungen aus einem fahrenden Polizeifahrzeug unter Verwendung des ProVida 2000 Modular-Systems über eine Verfolgungsstrecke von mindestens 2 km bei einer Mindestgeschwindigkeit von 120 km/h nach Toleranzabzug von 5 % erfolgten.

Das ProVida-System findet sowohl zur Geschwindigkeits- als auch zur Abstandsmessung Gebrauch und ist als standardisiertes Messverfahren für Geschwindigkeitsmessungen anerkannt, so dass es hinsichtlich der Geschwindigkeitsmessungen in den Urteilsgründen lediglich der Darstellung bedarf, dass nach dem ProVida-System gemessen, welches der nach diesem System möglichen Messverfahren (z.B. Messung aus stehendem Fahrzeug, Nachfahren mit konstantem Abstand, Weg-Zeit-Messung) angewandt und welcher Toleranzwert zugrunde gelegt wurde (Beschluss des 1. Senats vom 11.03.2003 - 1 SsOWi 617/03 -; OLG Köln, VRS 97, 442 ff. m. w. N.).

Abstandsmessungen werden mit dem ProVida-Gerät mittels Durchtastens von Video-Halbbildern möglich, wobei die Zeitdifferenz gemessen wird, die zwischen dem Passieren eines markanten ortsfesten Punktes durch zwei dem Polizeifahrzeug vorausfahrende überwachte Fahrzeuge liegt (Beck/Löhle, Fehlerquellen bei polizeilichen Messverfahren, 8. Aufl., S. 137).

Die Abstandsmessungen im ProVida-System erfolgen folglich nicht elektronisch, sondern unter Auswertung der Videoaufzeichnungen anhand der darauf erkennbaren Fixpunkte, so dass das Verfahren insoweit nicht standardisiert ist. Das System versetzt den Tatrichter vielmehr in die Lage, die Beobachtungen der Polizeibeamten im Wege des Augenscheinsbeweises unmittelbar und in Anwesenheit der Prozessbeteiligten im Gerichtssaal nachzuvollziehen, insbesondere Abstände zwischen Fahrzeugen anhand der bei der Videoprojektion erkennbaren Fixpunkte zuverlässig zu berechnen. Da die Abstände - anders als die Geschwindigkeiten - nicht elektronisch gemessen, sondern unter Auswertung des Videobandes errechnet werden, genügt jedoch nicht die Bezeichnung des Verfahrens, sondern die Auswertung und Berechnung müssen, um eine Überprüfung zu ermöglichen, in den Urteilsgründen verständlich und widerspruchsfrei dargelegt werden (Beschluss des 1. Strafsenats vom 11.03.2003 - 1 SsOWi 617/03 - bei Beck RS 2003, 30310919 m. w. N.).

Zwar hat das Amtsgericht Bielefeld die von den Zeugen C2 und K gemessenen Abstände durch die Inaugenscheinnahme des Videofilms überprüft und anhand der Erläuterungen des Zeugen K zu dem Messverfahren bestätigt gefunden.

Zum Inhalt des Videobandes, insbesondere, ob und gegebenenfalls welche Messergebnisse diesem zu entnehmen sind, werden jedoch keine Ausführungen gemacht. Auch enthält das Urteil keine Berechnungen oder andere Ergebnisse der Auswertungen, die es dem Senat ermöglichen, nachzuvollziehen, auf welche Weise der angegebene Abstand ermittelt wurde und ob dabei Fehler unterlaufen sind.

Zwar reichen die Angaben zur Länge der Fahrtstrecke, auf der die Abstandsunterschreitung festgestellt wurde, und zur gemessenen Geschwindigkeit. Auch enthält das Urteil gewisse Anhaltspunkte für die Berechnung des Abstands, so zum Zählwerkstand des Videobandes, zu der Anzahl von Einzelbildern und zu dem Hinterachsenstand des vorausfahrenden Fahrzeugs sowie zu dem Vorderachsenstand des Fahrzeugs des Betroffenen. Die Berechnungsgrundlage, aus der sich anhand der mitgeteilten Parameter der festgestellte Abstand von 13,33 m ergibt, wird hingegen nicht mitgeteilt.

Dazu hätte das Amtsgericht näher darlegen müssen, an welchen Punkten genau die Fahrzeuge durch die Einzelbildschaltung herangeführt wurden, wie die Berechnung dann erfolgt ist und von welchen Parametern (z. B. die zugrunde gelegte Länge der Mittelmarkierung) bei der Berechnung ausgegangen wurde. Ohne die Mitteilung dieser der Berechnung zugrunde liegenden Faktoren, insbesondere der Berechnungsmethode, kann der Senat nicht überprüfen, ob die Berechnung fehlerfrei erfolgte.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

Da die Rechtsbeschwerde bereits mit der Sachrüge Erfolg hat, bedarf die - nicht den Begründungsanforderungen der §§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO, 79 Abs. 3 OWiG genügende - Verfahrensrüge keiner Erörterung. ..."



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