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Kammergericht Berlin Urteil vom 17.06.2010 - 12 U 7/09 - Zum Anscheinsbeweis bei Vorfahrtverletzungen und zur Haftung des Busfahrers bei Unfall auf einem Sonderfahrstreifen

KG Berlin v. 17.06.2010: Zum Anscheinsbeweis bei Vorfahrtverletzungen und zur Haftung des Busfahrers bei Unfall auf einem Sonderfahrstreifen


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 17.06.2010 - 12 U 7/09) hat entschieden:
  1. Rammt ein Linienbus, der auf der bevorrechtigten Straße den Bussonderstreifen befährt, einen von rechts eingebogenen Pkw, der verkehrsbedingt mit seinem Heck auf dem Sonderfahrstreifen hängen geblieben ist, und trifft den Busfahrer kein Verschulden, so kommt - mit Rücksicht auf die erhöhte Betriebsgefahr des Busses - eine Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zu Lasten des Pkw-Halters in Betracht.

  2. Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden setzt einen "typischen" Auffahrunfall voraus, der nur dann vorliegt, wenn ein nachfolgendes Kfz auf das Heck eines in demselben Fahrstreifen befindlichen Kfz auffährt, wobei eine bloße Teilüberdeckung der Stoßflächen ausreicht, beide Fahrzeuge aber etwa parallele Längsachsen haben müssen.

  3. Kommt es im Bereich einer Kreuzung zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Kfz, so spricht der beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen.


Siehe auch Sonderfahrstreifen - Busspur - Taxispur und Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins


Gründe:

I.

Die Parteien streiten um wechselseitige Ansprüche aus einem Verkehrsunfall.

Wegen des Parteivorbringens erster Instanz, der dort durchgeführten Beweisaufnahme und gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und auf die Widerklage festgestellt, dass die Klägerin (als Widerbeklagte) und die Drittwiderbeklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet seien, der Beklagten zu 2) (als Widerklägerin) ihre Aufwendungen für den aufgrund des Schadensereignisses vom 15. September 2005 im Bus der Beklagten zu 2) mit dem polizeilichen Kennzeichen B... verletzten Fahrgast S... O..., geb. 1. März 1950, nach Überschreitung des mit der Drittwiderbeklagten zu 2) vereinbarten Teilungsabkommenslimits von 5.000,00 EUR in voller Höhe zu erstatten. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils verwiesen.

Die Klägerin greift dieses Urteil mit ihrer Berufung wegen der darin enthaltenen Klageabweisung an. Ferner greifen die Klägerin und die Drittwiderbeklagten dieses Urteil mit einer weiteren Berufung wegen ihrer Verurteilung auf die Widerklage an. Zur Begründung führen sie im Wesentlichen aus:

Das Landgericht habe die Beweislast im Hinblick auf Klage- und Widerklage vermengt.

Zudem habe es auch die Beweise fehlerhaft gewürdigt, weil es bei der Abwägung den Zeugen E... -G... völlig außer Acht gelassen habe. Der Zeuge E... -G... habe ausgesagt, dass das klägerische Fahrzeug mindestens schon 20 Sekunden gestanden habe, als der Aufprall durch den Bus erfolgt sei.

Zweifelhaft sei auch, dass das Landgericht von einem Anscheinsbeweis zu Lasten der Kläger- und Widerbeklagtenseite ausgehe. Zunächst sei das Landgericht noch von einem gegen die Beklagtenseite sprechenden Anscheinsbeweis ausgegangen. Offenbar habe das Landgericht aus einem nach seiner Auffassung erschütterten Anscheinsbeweis ohne weitere Anhaltspunkte einen „Gegenbeweis“ konstruiert.

Der Beklagte zu 1) hätte die erste leichte Bremsung mit sehr viel geringeren Folgen fortsetzen können. Stattdessen sei der Bus nach dem „Prinzip Hoffnung“ weitergefahren und habe die Gefahrenlage erst geschaffen. Mit den Pflichten des Beklagten zu 1) habe sich das Landgericht an keiner Stelle auseinandergesetzt.

Unter Einbeziehung der Aussage des Zeugen E... -G... hätte das Landgericht erkennen müssen, dass das Einfahren des Drittwiderbeklagten zu 1) in die Sonnenallee für den Unfall von untergeordneter Rolle gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Berlin vom 25. November 2008 die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 2.260,92 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 6. Dezember 2005 aus weiteren 124,65 EUR seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin und die Drittwiderbeklagten beantragen,
unter Abänderung des Urteil des Landgericht Berlin vom 25. November 2008 die Widerklage abzuweisen.
Die Beklagte zu 2) beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen das angegriffene Urteil.

Es stehe aufgrund des Beweises des ersten Anscheins fest, dass der Führer des klägerischen Fahrzeugs als Wartepflichtiger gegen die sich aus § 8 StVO ergebenden Pflichten verstoßen habe. Auch unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen E... -G... sei es der Klägerin und den Drittwiderbeklagten nicht gelungen, den Anscheinsbeweis zu erschüttern. Hinter dem grob verkehrswidrigen Vorgehen des Führers des klägerischen Fahrzeugs trete die Betriebsgefahr des Busses der Beklagten zu 2) vollständig zurück.


II.

Die zulässige Berufung der Klägerin gegen die Beklagte zu 2) hat teilweise, gegen den Beklagten zu 1) hingegen keinen Erfolg. Die zulässige Berufung der Klägerin und der Drittwiderbeklagten gegen die Beklagten zu 2) als Widerklägerin hat in der Sache keinen Erfolg.

A.

Die Berufung der Klägerin hat gegen den Beklagten zu 1) keinen und gegen die Beklagte zu 2) teilweise Erfolg.

1. Zu Recht hat das Landgericht die Klage gegen den Beklagten zu 1) abgewiesen. Denn gegen den Beklagten zu 1) steht der Klägerin kein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 18 StVG, § 823 BGB zu. Ihn trifft nämlich kein Verschulden. Die Betriebsgefahr des von ihm gefahrenen aber nicht gehaltenen Busses muss er sich nicht anrechnen lassen.

a) Gegen den Beklagten zu 1) spricht nicht der Beweis des ersten Anscheins, dass er den Unfall unter Verletzung seiner Sorgfaltspflichten verursacht habe, weil er mit dem von ihm geführten Bus auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren ist.

Der Anscheinsbeweis greift nämlich nur bei einem „typischen“ Auffahrunfall ein. Dieser liegt nach der Rechtsprechung beider Verkehrssenate des Kammergerichts regelmäßig nur dann vor, wenn ein nachfolgendes Kfz auf die Heckpartie eines in demselben Fahrstreifen befindlichen Kfz auffährt, wobei eine bloße Teilüberdeckung der Stoßflächen der im gleichgerichteten Verkehr befindlichen Kfz mit etwa parallelen Längsachsen ausreicht (Senat, KGReport Berlin 2009, 416, 418 m.w.Nachw.; KG (22. Senat), MDR 2001, 808). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Das klägerische Kfz kreuzte unstreitig den von dem Beklagten zu 1) genutzten Fahrstreifen bevor der Fahrer versuchte, sich auf dem Fahrstreifen links daneben einzuordnen und ragte im Zeitpunkt der Kollision nur noch mit einem Teil des Hecks in den von dem Beklagten zu 1) genutzten Fahrstreifen hinein. Das klägerische Kfz stellte somit für den Bus zunächst Querverkehr dar und stand nach dem Einbiegen zumindest nicht auf demselben Fahrstreifen, weshalb ein „typischer“ Auffahrunfall nicht vorliegt.

Eine Situation, in der die Beklagten einen gegen sie sprechenden Beweis des ersten Anscheins hätten erschüttern müssen, liegt daher von vornherein nicht vor.

b) Den Beklagten zu 1) trifft, anders als die Klägerin meint, auch nicht deshalb ein Verschulden, weil er den Bus nicht bereits beim ersten Bremsen bis zum Stillstand abgebremst hat. Der Beklagte zu 1) hat vielmehr verkehrsrichtig gehandelt.

aa) Der Beklagte zu 1) ist als Busfahrer mit Rücksicht auf die ihm zur sicheren Beförderung anvertrauten Personen verpflichtet, während der Fahrt nur dann scharf zu bremsen, wenn hierzu eine dringende verkehrliche Notwendigkeit besteht (vgl. OLG Hamm, NZV 1998, 463). Diese bestand hier – soweit der Beklagte zu 1) dies hat erkennen können und erkennen müssen – nicht.

Denn der Beklagte zu 1) durfte zunächst annehmen, dass sich das klägerische Fahrzeug noch aus dem von ihm befahrenen Bussonderstreifen durch vollständiges Einordnen in den Fahrstreifen links daneben entfernen würde.

Nach den Feststellungen des Landgerichts ist das klägerische Fahrzeug nämlich zunächst in einer Weise in die Sonnenallee eingefahren, die das Beklagtenfahrzeug behinderte und den Beklagten zu 1) dazu veranlasste, den Bus abzubremsen. Dann ist es dem klägerischen Kfz noch gelungen, den Bussonderstreifen fast vollständig zu verlassen und sich in den Verkehr auf dem Fahrstreifen links daneben trotz des gestauten Verkehrs einzuordnen.

Dies zeigt, dass sich das klägerische Fahrzeug noch in Bewegung befand, als der Beklagte zu 1) das erste Mal bremste und dass zumindest eine fast ausreichende Lücke für das klägerische Kfz vorhanden gewesen sein muss, in die das klägerische Fahrzeug hinein zu gelangen versuchte. In dieser Situation durfte der Beklagte zu 1) darauf vertrauen, dass das klägerische Kfz den Bussonderstreifen noch verlassen würde. Eine sofortige Gefahrenbremsung unter Inkaufnahme der Verletzung von Fahrgästen war jedenfalls nicht veranlasst. Der Schaden, der durch die Kollision mit einem Teil des klägerischen Fahrzeughecks drohte, war aus Sicht des Beklagten zu 1) erkennbar geringfügiger als derjenige, der durch eine sofortige Vollbremsung für die Fahrgäste zu erwarten war. Daher war sein Verhalten, den Bus zunächst nur leicht abzubremsen, verkehrsrichtig.

bb) Der vom Landgericht festgestellte Sachverhalt ist entgegen der Ansicht der Klägerin der Entscheidung zugrunde zu legen.

Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, dass das klägerische Kfz schon 20 Sekunden gestanden hat, bevor es zu dem Unfall gekommen ist. In diesem Fall hätte der Beklagte zu 1) erkennen müssen, dass das klägerische Kfz auf der Kreuzung hängen geblieben war. Er hätte dann den Bus rechtzeitig Abbremsen und die Kollision vermeiden müssen. Auf diese Fallkonstellation beziehen sich die von der Klägerin angeführten Rechtsprechungsnachweise, die hier jedoch nicht zum Tragen kommen.

Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht nämlich seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen. Das ist hier nicht der Fall.

Die Richtigkeit des vom Landgericht festgestellten Sachverhalts wird schon durch den Vortrag der Klägerin in der Klageschrift bestätigt. Denn dort hat sie vorgetragen, dass der Beklagte zu 1) die erste Bremsung durchführte, weil er befürchtete, dass es sonst zur Kollision komme. Er sei dann weiter gefahren und „einen Moment später“ habe er erneut stark abbremsen müssen, sei aber nicht mehr am Kfz der Klägerin vorbeigekommen und sei gegen dieses gefahren.

Die Klägerin selbst schildert den Sachverhalt in der Klageschrift also derart, dass zwischen der ersten und der zweiten Bremsung nur eine relativ kurze Zeit vergangen ist. Das klägerische Kfz kann daher, als es zur Kollision kam, nicht schon eine so lange Zeit gestanden haben, dass sich der Beklagte zu 1) auf das Hindernis hätte einstellen können.

Diese Darstellung ist auch von dem Zeugen F... bestätigt worden, der angab, dass es zunächst so ausgesehen habe, als ob es dem (klägerischen) Fahrzeug noch gelingen würde, die Busspur zu queren und sich in die links daneben gelegene Spur „zu retten“. Jedenfalls sei das Einfahrmanöver gefährlich gewesen.

Auch diese Aussage bestätigt, dass zwischen dem Einfahren des klägerischen Kfz in die Sonnenallee und der Kollision nur wenig Zeit vergangen ist, weil der Zeuge sonst nicht von einem gefährlichen Einfahrmanöver und davon gesprochen hätte, dass es dem Kfz möglicherweise noch gelingen würde, sich „zu retten“.

Die Angaben des Zeugen E... -G..., die sich die Klägerin im Anschluss an seine Vernehmung zu Eigen gemacht hat, sind nicht geeignet, zu beweisen, dass das klägerische Kfz vor der Kollision schon mindestens 20 Sekunden gestanden hat. Bei den Angaben des Zeugen E... -G... handelt sich nämlich nur um eine geschätzte Zeitangabe, die keine verlässliche Entscheidungsgrundlage darstellt, weil das Zeitempfinden individuell unterschiedlich ist. Es ist nicht nachvollziehbar, wie der Zeuge zu diesen Angaben gelangt ist. Mehr als eine „gefühlte“ Zeit ist der Aussage nicht zu entnehmen (vgl. Senat , Beschluss vom 28. Januar 2010 – 12 U 40/09, juris, Tz. 19). Hieran ändert auch nichts die Erläuterung des Zeugen, dass er sich an die angegebene Zeitspanne erinnern könne, weil er auch selbst gewartet habe. Denn hieraus ergibt sich nicht, dass es sich um mehr als eine nur geschätzte Zeit handelt.

c) Steht danach fest, dass der Beklagte zu 1) verkehrsrichtig gehandelt hat, scheidet seine Haftung sowohl nach § 18 StVG als auch nach § 823 BGB aus, weil beide Vorschriften ein Verschulden für die Annahme der Haftung voraussetzen (vgl. BGH, NJW 1983, 1326, 1327; OLG Hamm, NZV 1998, 463).

d) Der Beklagte zu 1), der nur Fahrer des Kfz, nicht aber zugleich sein Halter gewesen ist, muss sich auch nicht die Betriebsgefahr des Kfz zurechnen lassen. Eine entsprechende Zurechnung kommt nämlich nur in Betracht, wenn der Fahrer seinerseits für Verschulden gemäß § 823 BGB oder für vermutetes Verschulden gemäß § 18 StVG haftet (vgl. BGH, NZV 2010, 189, 190, Tz. 12). Das ist hier aber – wie gezeigt – nicht der Fall.

2. Die Berufung der Klägerin hat aber zum Teil Erfolg, soweit sie den Ersatzanspruch gegen die Beklagte zu 2) weiter verfolgt. Der Klägerin steht nämlich gegen die Beklagte zu 2) gemäß § 7 Abs. 1 StVG ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 552,73 EUR zu.

a) Im Ausgangspunkt zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich das Unfallereignis für beide Unfallbeteiligte nicht als unabwendbares Ereignis gemäß § 17 Abs. 3 StVG darstellte.

Denn keine Partei hat dargelegt und bewiesen, dass sich die Fahrer der unfallbeteiligten Fahrzeuge auf ein etwaiges Fehlverhalten des jeweils anderen eingestellt hätten (vgl. Senat, NZV 2003, 481).

b) Daher sind gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG die Verursachungs- und Verschuldensanteile gegeneinander abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind neben unstreitigen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen (BGH, NJW 2007, 506; Senat, NZV 2002, 230). Ferner ist zu beachten, dass nur solche Umstände bei der Abwägung berücksichtigt werden dürfen, die unfallursächlich sind, sich also im Unfallgeschehen niedergeschlagen haben (BGH NJW 2007, 506 f; NJW 2005, 1940, 1942; Senat, NZV 2007, 306, 307).

aa) Auf Seiten der Klägerin fällt ins Gewicht, dass der Fahrer ihres Kfz durch die Einfahrt in die bevorrechtigte Sonnenallee in unfallursächlicher Weise gegen die aus § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO folgenden Sorgfaltspflichten verstoßen hat.

Der nach § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StVO wartepflichtige Einbieger darf gemäß § 8 Abs. 2 S. 2 StVO nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Gegen diese Anforderungen hat der klägerische Fahrer verstoßen.

Kommt es nämlich im Bereich einer vorfahrtgeregelten Kreuzung zu einem Zusammenstoß zwischen zwei Kfz, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen (BGH, VersR 1976, 365, 367; Senat, NZV 2002, 79).

Diesen Anscheinsbeweis konnte die Klägerin nicht erschüttern. Der Anscheinsbeweis ist nämlich erst entkräftet, wenn die Partei, gegen die der Anscheinsbeweis spricht, Tatsachen bewiesen hat, aus denen sich die Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs ergibt (BGH, VersR 1984, 44, 45).

Da die Klägerin – wie schon dargelegt – nicht beweisen konnte, dass das von ihr gehaltene Kfz schon mindestens 20 Sekunden vor der Kollision gestanden hat, kann von einem atypischen Geschehensablauf nicht ausgegangen werden.

bb) Zu Lasten der Beklagten ist lediglich die Betriebsgefahr des Busses zu berücksichtigen, weil – wie schon dargelegt – den Fahrer des Busses kein Schuldvorwurf trifft.

Zwar tritt die Betriebsgefahr des Vorfahrtsberechtigten in der Regel gegenüber der schuldhaften Vorfahrtsverletzung des Wartepflichtigen zurück (Senat, NZV 2002, 79; OLG Karlsruhe, VersR 2009, 1419, 1420). Dies setzt jedoch eine nicht erhöhte Betriebsgefahr voraus (vgl. OLG Frankfurt, Urteil vom 19. September 1996 – 26 U 61/96, juris). Die Betriebsgefahr des Busses hier ist jedoch erhöht gewesen.

Die Betriebsgefahr eines Kfz besteht in der Gesamtheit der Umstände, die, durch die Eigenart als Kfz begründet, Gefahr in den Verkehr tragen. Sie wird durch die Schäden bestimmt, die dadurch Dritten drohen. Allgemein können dafür Fahrzeuggröße, Fahrzeugart, Gewicht, Fahrzeugbeschaffenheit, typische Eigenschaften im Verkehr etc., stets bezogen auf den konkreten Fall, maßgebend sein (König in Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage, § 17, StVG, Rn. 6).

Vorliegend ist die Betriebsgefahr des Busses in der konkreten Situation deshalb erhöht gewesen, weil der Busfahrer mit Rücksicht auf seine Fahrgäste nicht verpflichtet gewesen ist, durch eine sofortige Bremsung eine Kollision mit dem in die Sonnenallee einfahrenden Kfz zu verhindern. Wegen der besonderen Gefährdung der Fahrgäste durfte er – wie ausgeführt – zunächst eine leichte Bremsung vornehmen, weil die Verkehrssituation es nicht von vornherein ausschloss, dass das klägerische Kfz den Fahrstreifen noch vollständig verlassen würde und eine Abwägung der in dem einen wie in dem anderen Fall drohenden Schäden eine sofortige Gefahrenbremsung nicht gebot. Im konkreten Fall kam es später aber dennoch zu einer Kollision. In dem späteren Zusammenstoß mit dem klägerischen Kfz hat sich die in dieser Art erhöhte Betriebsgefahr ursächlich ausgewirkt.

Die erhöhte Betriebsgefahr tritt daher nicht vollständig zurück (vgl. OLG Saarbrücken, NZV 1992, 234). Vielmehr ist von einer Haftungsquote von 25 % zu Lasten der Beklagten zu 2) auszugehen.

c) Der Klägerin steht gegen die Beklagte zu 2) infolgedessen ein Anspruch auf Zahlung in Höhe von insgesamt 552,73 EUR zu. Der Betrag setzt sich zusammen aus Schadensersatz in Höhe von 521,57 EUR und einen Anspruch auf Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 31,16 EUR.

aa) Die Klägerin kann folgende Schadenspositionen ansetzen: 248,85 EUR Gutachterkosten, 250,00 EUR Wertminderung, 1.490,70 EUR Reparaturkosten, 76,73 EUR Mietwagenkosten und 20,00 EUR als Unkostenpauschale. Von dem Gesamtbetrag in Höhe von 2.086,28 EUR steht der Klägerin ¼ zu, das sind 521,57 EUR.

Die Klägerin kann hingegen nicht die pauschal geltend gemachten Kosten für das Umpacken der Ladung und einen über 20,00 EUR hinaus gehenden Betrag als Unkostenpauschale ersetzt verlangen.

bb) Die Klägerin verlangt ferner die Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 0,65 Gebühr nach einem Gegenstandswert bis 2.500,00 EUR zuzüglich einer Post und Telekommunikationspauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG, das sind 124,65 EUR. Davon steht ihr ¼ zu, das sind 31,16 EUR.

cc) Zinsen kann die Klägerin wie beantragt gemäß § 288 Abs. 1 BGB in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz verlangen.

Verzug ist allerdings insgesamt gemäß § 286 Abs. 1 S. 2 BGB erst mit Erhebung der Klage eingetreten, weil allein die Übersendung einer Schadensbezifferung die Beklagte zu 2) gemäß § 286 Abs. 3 BGB nicht 30 Tage nach Zugang der Zahlungsaufforderung in Verzug setzt. Denn der geltend gemachte Schadensersatzanspruch stellt keine Entgeltforderung i.S.d. § 286 Abs. 3 BGB dar (Grüneberg in Palandt, BGB, 69. Auflage, § 286, Rn. 27).


B.

Die Berufung der Klägerin und der Drittwiderbeklagten zu 1) und zu 2) gegen die Beklagte zu 2) als Widerklägerin wegen der Stattgabe der Widerklage bleibt ohne Erfolg. Das Landgericht hat der Widerklage zu Recht stattgegeben.

Die Beklagte zu 2) hat gegen die Klägerin und die Drittwiderbeklagten zu 1) und zu 2) einen Anspruch auf Feststellung, dass diese verpflichtet sind, nach Überschreitung des vereinbarten Teilungsabkommenslimits der Beklagten zu 2) die Aufwendungen für den bei dem Schadensereignis vom 15. September 2005 im Bus verletzten Fahrgast zu ersetzen. Der Ersatzanspruch folgt aus §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 3 PflVG.

Im Ergebnis zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der Fahrgast O... bei dem in Rede stehenden Verkehrsunfall verletzt hat. Das Bestreiten der Klägerin und der Drittwiderbeklagten ist insoweit nämlich unzureichend und daher unbeachtlich gewesen, weil sich bereits aus den von ihnen selbst vorgelegten Unterlagen, nämlich dem als Anlage A 3 in Kopie vorgelegten Ermittlungsbericht der Polizei, ergibt, dass sich der Fahrgast O... bei dem Unfall schwer verletzte.

Ferner gilt auch hier, dass gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG die Verursachungs- und Verschuldensanteile gegeneinander abzuwägen sind, weil der Unfall für keine Seite unabwendbar gewesen ist. Im Rahmen dieser Abwägung sind – was schon ausgeführt worden ist – neben unstreitigen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Ferner dürfen nur solche Umstände bei der Abwägung berücksichtigt werden, die unfallursächlich sind, sich also im Unfallgeschehen niedergeschlagen haben.

Zu Lasten der Klägerin und der Drittwiderbeklagten fällt erneut die schuldhafte Vorfahrtsverletzung ins Gewicht.

Die Betriebsgefahr des Busses ist hier jedoch in unfallursächlicher Weise nicht erhöht gewesen und tritt daher vollständig zurück.

Im Zusammenhang mit der Klageforderung der Klägerin, die im Wesentlichen auf Ersatz des Schadens an dem klägerischen Kfz, der infolge der Kollision entstanden ist, gerichtet gewesen ist, war die Betriebsgefahr des Busses in unfallursächlicher Weise erhöht, weil der Bus mit Rücksicht auf die Fahrgäste nicht sofort scharf bremsen musste, was die Kollision hätte verhindern können.

Dieser Umstand hat sich jedoch im Zusammenhang mit der Widerklage, die auf Ersatz der Aufwendungen wegen des Sturzes eines Fahrgastes gerichtet ist, nicht ausgewirkt. Der Fahrgast ist gerade wegen der erforderlich gewordenen Bremsung oder wegen des Zusammenstoßes gestürzt, nicht jedoch, weil der Bus nur verhalten gebremst hat. Ob der Fahrgast nicht zu Schaden gekommen wäre, wenn der Bus schon beim ersten Bremsen bis zum Stillstand abgebremst worden wäre, steht nicht fest und kann daher bei der Abwägung nicht berücksichtigt werden.

Die nicht erhöhte Betriebsgefahr tritt gegenüber dem schuldhaften Vorfahrtsverstoß bei der Abwägung der Haftungsanteile vollständig zurück.

Der Berufung bleibt daher insoweit der Erfolg versagt.


C.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92, 97, 100 ZPO.


D.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.


E.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund gemäß § 543 Abs. 2 ZPO weder ersichtlich noch dargetan ist.