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OLG München Urteil vom 27.01.2012 - 10 U 4039/11 - Zum Begriff des Wendens

OLG München v. 27.01.2012: Zum Begriff des Wendens


Das OLG München (Urteil vom 27.01.2012 - 10 U 4039/11) hat entschieden:
Fährt der Kfz-Führer nach Abbremsen bis zum Stillstand in ein kurzes asphaltiertes Teilstück eines Feldweges ein und setzt dann von dort aus in einem Zug wieder zurück, um in der entgegengesetzten Fahrtrichtung weiter zu fahren, so liegt ein Wenden vor.


Siehe auch Sorgfaltsanforderungen bei Feld- und Waldwegen und Wenden


Gründe:

A.

Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Das Landgericht hat zu Unrecht Ansprüche des Klägers auf restlichen Schadensersatz in Höhe von 3.788,07 € nebst Prozesszinsen (§ 291 BGB) aus einem Verkehrsunfall vom 03.03.2011 gegen 07.50 Uhr auf der Ortsverbindungsstraße zwischen Eic. und Eit. abgelehnt. Wegen des grob verkehrswidrigen Verhaltens des Beklagten zu 1) (Verstoß gegen § 9 V StVO) und, da ein Verkehrsverstoß der Zeugin H. nicht nachgewiesen werden konnte, haften die Beklagten in vollem Umfang für den, dem Kläger unstreitig entstandenen Schaden, eine etwaige Haftung aus Betriebsgefahr tritt dahinter zurück.

Das Fahrmanöver des Beklagten zu 1) stellte ein Wenden im Sinne des § 9 V StVO dar. Entscheidend ist, dass der der Beklagte zu 1) ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht vom 11.08.2011 (Bl. 33/38 d.A.) in seiner Anhörung ausgeführt hat, dass er bis zum Stillstand abgebremst habe, um unter Zuhilfenahme des links liegenden Feldwegs zu wenden. Der Senat hat daher den Beklagten zu 1) in der mündlichen Verhandlung vom 27.01.2012 (Bl. 76/81 d.A.) ergänzend angehört, da die Beklagten im Schriftsatz vom 11.12.2011 (Bl. 70/75 d.A.) vorgetragen haben, der Beklagte zu 1) habe nicht wenden, sondern links abbiegen wollen, um dann aus dem Feldweg zurückzustoßen, damit er in die Gegenrichtung weiterfahren konnte. Unabhängig von der rechtlichen Frage, ob nicht bereits dieses Fahrmanöver ein Wenden im rechtlichen Sinne darstellt, wofür alles spricht, da angesichts der besonderen örtlichen Lage (nur kurzes asphaltiertes Stück bis zum Beginn des unbefestigten Feldwegs) und der klaren Äußerung des Beklagten zu 1), er habe nicht in den Feldweg hineinfahren wollen, davon auszugehen ist, dass er die Hauptstraße bei dem Wendemanöver nicht vollständig verlassen wollte, hat der Beklagte zu 1) unmissverständlich geäußert, was er unter dem Begriff „Wenden“ versteht, nämlich das „in einem Zug umdrehen und in einem Zug in die Gegenrichtung weiterfahren“ (vgl. Protokoll vom 27.01.2012, Seite 2 = Bl. 77 d.A.). Abgesehen davon, dass es sich bei dem Begriff „Wenden“ um einen im allgemeinen Sprachgebrauch verwendeten Begriff handelt, auch zwischen diesem Sprachgebrauch und dem juristischen Verständnis keine entscheidenden Abweichungen bestehen, hat der Beklagte unmissverständlich geäußert, wie er den bereits in seiner Anhörung vor dem Landgericht verwendeten Begriff „Wenden“ gemeint hat. Soweit der Beklagte zu 1) selbst also davon spricht, dass er „in einem Zug“ umdrehen wollte, gibt es auch nicht andeutungsweise einen Hinweis darauf, dass der Beklagte zu 1) die Straße vollständig habe verlassen wollen (was eine Subsumtion unter § 9 V StVO in Zweifel hätte ziehen können). Soweit die Beklagten monieren, selbst der Kläger habe nicht behauptet, der Beklagte zu 1) habe wenden wollen, hat der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat überzeugend darauf hingewiesen, dass auf Grund des Unfallgeschehens die Behauptung eines Wendemanövers unredlich gewesen wäre, da der Unfall etwa auf Scheitelhöhe erfolgte und die Zeugin H. und damit der Kläger (der sich nur auf die Angaben seiner Frau stützen konnte) naturgemäß nicht sagen konnten, ob der Beklagte zu 1) ab dem Scheitelpunkt geradeaus weiterfährt (= Abbiegen) oder weiterdreht (Wenden). Jedenfalls hat der Kläger in der letzten mündlichen Verhandlung während der Beweisverhandlung die Darstellung des Beklagten zu 1) aufgegriffen und diese hinsichtlich des Wendens übernommen. Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits, auch in der Berufungsinstanz, zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen (BGH NJW-RR 1995, 1340; 2000, 208; Senat, Urt. v. 08.04.2005 - 10 U 5279/04 = DAR 2005, 684, stRspr., zuletzt Hinweis v. 20.02.2008 - 10 U 5691/07; Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, 5. Aufl. 1994, Rz. 101). Das Wendemanöver war auf Grund der örtlichen Lage unproblematisch durchzuführen. Entgegen den Angaben des Beklagten zu 1), wonach die Straße an der Unfallstelle „sehr schmal“ gewesen sei (vgl. Protokoll, a.a.O., S. 2), hat eine Überprüfung der Unfallstelle in google-earth, die mit den Parteien in der mündlichen Verhandlung auch zusammen mit den von der Zeugin H. gefertigten und als Anlage zum Protokoll übergebenen Lichtbildern in Augenschein genommen und besprochen wurde, ergeben, dass die Straße an der Unfallstelle ohne asphaltierter Einfahrtstrichter des Feldwegs bzw. ohne Radweg ca. 6,5 Meter beträgt und deshalb ausreichend Platz für ein Wendemanöver bestand, jedenfalls, wenn der asphaltierte Teil der Feldwegeinfahrt mitverwendet wird, was der Beklagte zu 1) selbst angegeben hat (s.o.). Insoweit verfügt der Senat als Spezialsenat für Verkehrsunfälle aller Art auch über ausreichende eigene Sachkenntnis zur Feststellung dieser Tatsache.

Der Beklagte zu 1) hat die Pflichten des § 9 V StVO missachtet, indem er trotz der überholenden Zeugin H. versucht hat, zu wenden. Dass der Beklagte zu 1) jedenfalls im Seitenspiegel freie Sicht nach hinten hatte, ergibt sich aus seinen eigenen Angaben (siehe Protokoll, a.a.O., letzter Absatz). Nach dem Passierenlassen des ersten Überholers ist der Beklagte zu 1) dann losgefahren, ohne noch auf den weiteren Verkehr zu achten, so seine Angaben (vgl. Protokoll, a.a.O., Seite 4 unten = Bl. 79 d.A.).

Dies stellt einen groben Verkehrsverstoß dar, der eine alleinige Haftung des Beklagten zu 1) rechtfertigt, denn ein Verkehrsverstoß der Zeugin H. ist nicht ersichtlich. Der insoweit beweispflichtige Beklagte zu 1) konnte nicht nachweisen, dass er geblinkt hat (die Angaben der Unfallbeteiligten haben sich widersprochen, ein objektiver Nachweis oder Zeugenaussagen hierzu liegen nicht vor). Auch hat der Beklagte zu 1) selbst auf Frage hin nicht angeben können, dass er sich zur Mitte hin eingeordnet hat (was im Übrigen auch das geplante Wendemanöver „in einem Zug“ erschwert hätte). Letztlich bleibt nur das langsame Fahren. Dies alleine machte die Verkehrslage für die Zeugin H. jedoch noch nicht unklar i.S.d. § 5 III Nr. 1 StVO (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl. 2011, § 5 StVO Rd. 35 m.w.N.), da die Straße ausreichend breit war und ein Abbiegen eines Pkws in einen Feldweg auch nicht zwingend erwartet werden muss. Zieht man weiter die Angaben des Beklagten zu 1) heran, dass vor der Zeugin bereits ein Fahrzeug die beiden langsam fahrenden Fahrzeuge überholt habe, gab es für die Zeugin überhaupt keinen Grund mehr anzunehmen, der Beklagte zu 1) werde ihr Vorrecht nicht achten und unter Verstoß gegen § 9 V StVO wenden. Nur weil die Zeugin selbst einen vor ihr Überholenden nicht in Erinnerung hatte, gibt es keinen Grund, den klaren und wiederholt in gleicher Weise bekundeten Erinnerungen des Beklagten zu 1) zu misstrauen, kann es doch auch sein, dass sich die Zeugin schlicht an diesen Vorgang angesichts des späteren für sie dramatischen Unfallereignisses nicht mehr erinnert.

II.

Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten können wie bereits angefallene Sachverständigenkosten oder geschätzte Reparaturkosten im Schadensersatzprozess neben der Hauptsache geltend gemacht werden (BGH AnwBl. 2007, 154 ff. = VersR 2007, 265 = NZV 2007, 181; Senat AnwBl 2006, 768 f. = RVGreport 2006, 467 = zfs 2007, 48 = VersR 2007, 267 = NZV 2007, 211; Urt. v. 29.06.2007 - 10 U 5755/06).

Nach § 249 I, II 1 BGB waren diejenigen adäquat verursachten Rechtsverfolgungskosten in Form vorprozessualer Anwaltskosten zu ersetzen, die aus Sicht des Schadensersatzgläubigers zur Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (Senat a.a.O.). Als erforderlich sind die nach dem Urteil begründeten Forderungen anzusehen (BGH MDR 2008, 351 [352]; Senat a.a.O.).

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92 I 1 Fall 1, 100 II, IV ZPO.

IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

V.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.