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OLG Naumburg Urteil vom 25.05.2012 - 10 U 43/11 - Zur Ablehnung eines Beweisantrags durch Urteil statt durch Beschluss

OLG Naumburg v. 25.05.2012: Zur Ablehnung eines Beweisantrags durch Urteil statt durch Beschluss


Das OLG Naumburg (Urteil vom 25.05.2012 - 10 U 43/11) hat entschieden:
  1. Zur Haftungsverteilung bei einem Zusammenstoß eines aus einer Kolonne nach links ausscherenden überholwilligen Pkw-Führers mit einem von hinten bereits im Überholen begriffenen Kradfahrer, der diese Absicht seinerseits mit überhöhter Geschwindigkeit verwirklicht.

  2. Wird über die Ablehnung eines Sachverständigen unrichtig nicht mit Beschluss, sondern im instanzabschließenden Urteil entschieden, ist dieses wegen des Verfahrensfehlers nur dann anfechtbar, wenn eine sofortige Beschwerde nach § 406 Abs. 5 ZPO gegen einen ablehnenden Beschluss gemäß § 406 Abs. 4 ZPO Erfolg gehabt hätte. Eine entsprechende Prüfung kann das Berufungsgericht selbst vornehmen.

  3. Es kann dahinstehen, ob ein Abzug „neu für alt“ hinsichtlich der Ersatzleistung für die Motorradfahrerschutzkleidung des Klägers vorzunehmen ist, weil die Höhe des Abzugs ist regelmäßig nach dem Verhältnis der Nutzungsdauer des alten und des neuen Gegenstands zu bemessen ist (BGH VersR 1959, 399 = NJW 1959, 1078; Palandt/Heinrichs, BGB 71. Aufl. vor § 249 Rn. 127) oder der gegenteiligen Auffassung (z.B. LG Darmstadt, DAR 2008, 89 m.w.N.)zu folgen ist. Es sind insoweit die allgemeinen Grundsätze des Schadensrechts anzuwenden (OLG Karlsruhe VersR 2010, 491). Ein solcher Abzug ist gemäß § 287 ZPO nicht vorzunehmen, wenn die Kleidung erst drei Monate vor dem Unfallereignis erworben wurde und daher im Hinblick auf die besondere Haltbarkeit von Motorradschutzkleidung ein Abzug nach so kurzer Tragezeit nicht vorzunehmen ist.


Siehe auch Unfälle mit Kradbeteiligung - Motorradunfälle und Überholen einer Kolonne


Gründe:

I.

Der Kläger macht Ansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 22. Juni 2009 auf der L ... zwischen S. und C. gegen die Beklagten geltend. Der Beklagte zu 1. fuhr in einer Kolonne aus fünf Fahrzeugen als zweites Fahrzeug hinter der Zeugin Sp. mit einer Geschwindigkeit von ca. 85 km/h; der Kläger fuhr mit seinem Motorrad Kawasaki ZX 12 R von hinten an die Kolonne heran. Sowohl der Kläger als auch der Beklagte wollten überholen. Während des bereits begonnenen Überholmanövers des Klägers begann der Beklagte zu 1. seinerseits, den vor ihm fahrenden Wagen der Zeugin Sp. zu überholen. Die Einzelheiten des Überholvorganges und des Unfallgeschehens sind streitig. Es kam zum Auffahrunfall zwischen dem Kläger und dem Beklagten. In der Folge des Unfalles stürzte der Kläger von seinem Motorrad in den linken Straßengraben, das Motorrad überschlug sich. Das Motorrad erlitt durch den Unfall einen Totalschaden in Höhe von 4.950,00 EUR, welcher zwischen den Parteien unstreitig ist. Der Kläger erlitt eine Luxation (Verrenkung) des linken Ellenbogengelenkes, welche operativ behandelt wurde, sowie eine traumatische Ruptur des Ligamentums collaterale ulnare links (Riss des Kollateralbandes des Ellenbogengelenkes) und eine Olecranonfraktur links (Ellenhakenfraktur). Er befand sich in stationärer Behandlung vom 22. Juni bis 01. Juli 2009 und trug sechs Wochen lang Gips. Anschließend befand er sich in physiotherapeutischer Behandlung.

Darüber hinaus begehrt der Kläger eine Auslagenpauschale in Höhe von 25,00 EUR sowie die Kosten für die beschädigte Schutzkleidung in Höhe von 1.052,72 EUR (Bl. 20 I d.A.). Weiterhin begehrt der Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 2.500,00 EUR und die Erstattung der vorprozessual entstandenen Rechtsanwaltskosten.

Der Kläger hat behauptet, er habe nach dem Durchfahren einer Rechtskurve die Straße auf ca. 400 bis 450 m einsehen können und zum Überholen der ebenfalls in der Kolonne fahrenden Fahrzeuge des Zeugen M. sowie einer unbekannten Fahrerin eines roten Kleinwagens angesetzt. Als er sich in Höhe der B-Säule des roten Kleinwagens und ca. 15 m hinter dem Beklagten zu 1. befunden habe, sei der Beklagte zu 1. ohne zu blinken ausgeschert. Trotz Bremsmanövers sei es zum Zusammenstoß gekommen, als das letzte Hinterrad des Beklagten zu 1. die Mittellinie überquert habe. Er ist daher der Ansicht, der Beklagte zu 1. habe den Unfall allein verschuldet.

Der Beklagte hat behauptet, sein Fahrzeug habe sich bereits vollständig und längere Zeit auf der Gegenfahrbahn befunden, als es zum Zusammenstoß gekommen sei. Der Kläger sei ungebremst mit überhöhter Geschwindigkeit auf ihn aufgefahren, nachdem er seine Bremse nach einer Vollbremsung wieder gelöst habe, sodass er in nach links gerichteter Fahrt auf sein Fahrzeug aufgefahren sei. Er hat die Ansicht vertreten, für die Kleidung sei allenfalls der Zeitwert zu erstatten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des in erster Instanz unstreitigen und streitigen Sachverhaltes und der erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, eine Haftung der Beklagten gemäß §§ 17 Abs. 3, 18 Abs. 1, 115 VVG, 1 PflVersG sei ausgeschlossen, weil der Unfall für den Beklagten zu 1. unvermeidbar war und ihn kein Verschulden traf. Vielmehr habe der Unfall auf dem verkehrswidrigen Verhalten des wegen Geschwindigkeitsüberschreitung bereits vorbelasteten Klägers beruht. Nach der Beweisaufnahme durch Sachverständigengutachten stehe fest, dass sich der Pkw des Beklagten zu 1. zum Kollisionszeitpunkt bereits innerhalb des linken Fahrstreifens befunden habe. Zum Zeitpunkt des Überholentschlusses des Beklagten zu 1. habe sich der Kläger mit seinem Krad 49 bis 64 m hinter dem Pkw des Beklagten zu 1. befunden. Zu diesem Zeitpunkt habe der Beklagte zu 1. den Kläger nicht zwingend sehen müssen. Es ließen sich vielmehr Konstellationen nachvollziehen, in denen das Krad des Klägers sich noch hinter dem vierten Pkw auf dem rechten Fahrstreifen oder im Bereich der Fahrbahnmitte befunden habe, auch wenn mit höherer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass der Kläger vor Ausscherbeginn des Beklagten zu 1. bereits auf dem linken Fahrstreifen befunden habe. Zudem habe sich der Kläger mit einer deutlich höheren Annäherungsgeschwindigkeit von 139 bis 160 km/h dem Fahrzeug des Beklagten zu 1. genähert. Bei dieser völlig überhöhten Geschwindigkeit sei der Unfall für den Beklagten unvermeidbar gewesen.

Mit der hiergegen gerichteten Berufung rügt der Kläger unter Wiederholung seines erstinstanzlichen Vortrages die Verwertung des Sachverständigengutachtens. Das Landgericht habe fehlerhaft den Antrag auf Ablehnung des Sachverständigen nicht beschieden. Die erstinstanzlich eingeholten Gutachten seien lückenhaft und teilweise widersprüchlich. Der Sachverständige gehe von falschen Anknüpfungstatsachen aus, insbesondere sei der Kläger entgegen der Annahme des Sachverständigen nicht in Fahrtrichtung nach links, sondern nach rechts gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen. Der Beklagte sei mit dem rechten hinteren Reifen erst auf dem Mittelstreifen gewesen, die Bremsblockierspur sei ebenso wie die Reifenabriebspur dem Hinterrad zuzurechnen. Die Flüssigkeitsspuren habe der Sachverständige nicht richtig ausgewertet, weil er anderenfalls zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass das Krad in Fahrtrichtung nach rechts gegen den Pkw des Beklagten gefahren sei. Der Sachverständige habe weiterhin die Endlage der Fahrzeuge verkannt, insbesondere den Umstand, dass das Beklagtenfahrzeug erst ca. 200 bis 250 m nach dem Kollisionsort zum Stehen gekommen sei. Der Sachverständige sei fehlerhaft von einer Drehung des Vorderrades nach links ausgegangen, die allerdings nicht unfall-, sondern bergungsbedingt sei.

Der Kläger beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen,

  1. an den Kläger einen Betrag in Höhe von 6.027,72 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08. September 2009 zu zahlen.

  2. an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08. September 2009 zu zahlen.

  3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 22. Juni 2009 auf der L ... zwischen S. und C. zu zahlen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

  4. an den Kläger vorgerichtliche Kosten der prozessbevollmächtigten in Höhe von 693,18 EUR nebst Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 08. September 2009 zu zahlen.

hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteiles zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Magdeburg zurückzuverweisen.

Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil und Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen E. Sp. und R. M. sowie Anhörung des Sachverständigen Dipl. Ing. K. .


II.

Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Sie ist statthaft (§ 511 ZPO) und auch im Übrigen in verfahrensrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden, insbesondere ist sie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 517, 520 Abs. 2 ZPO).

Sie hat auch in der Sache teilweise Erfolg.

Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagten auf Ersatz des entstandenen Schadens aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall in Höhe von 3.031,86 EUR und 1.000,00 EUR Schmerzensgeld ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1 und 2 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 823 Abs. 1, 253, 254, 426 BGB.

1. Sowohl für den Kläger als auch für den Beklagten zu 1. war das Unfallgeschehen entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG, sodass eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmen ist. Bei der Abwägung sind nur solche Umstände zu berücksichtigen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind (BGH NJW 2000, 3069; Hentschel-König, aaO, § 17 StVG, Rn. 5).

Keine der Parteien kann für sich in Anspruch nehmen, dass sie den gesteigerten Verkehrsanforderungen eines idealtypischen Fahrzeugführers entsprochen und sich in der konkreten Verkehrslage insbesondere auf ein etwaiges Fehlverhalten des jeweils anderen mit der gebotenen Sorgfalt eingestellt hätten.

Unabwendbar ist ein Schadensereignis, das auch durch äußerst mögliche und gebotene Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können. Der Fahrer, der mit Erfolg die Unabwendbarkeit des Unfallgeschehens einwenden möchte, muss sich wie ein "Idealfahrer" verhalten haben und in der bestimmten Verkehrssituation insbesondere auch alle möglichen und naheliegenden Gefahrenmomente sowie fremde Fahrfehler in die von ihm anzustellende Gefahrenprognose einstellen (BGH NVZ 1992, 229, 230 m. w. N.; Hentschel-König, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 17 StVG, Rn 22 mwN). Dies erfordert sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinaus. Der Begriff des unabwendbaren Ereignisses setzt dabei eine sich am Schutzzweck der Gefährdungshaftung für den Kraftfahrzeugbetrieb ausrichtende Wertung voraus, die unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrsumstände zu erfolgen hat. Die Prüfung darf sich dabei allerdings nicht nur auf die Frage beschränken, ob der Fahrer in der konkreten Gefahrensituation wie ein "Idealfahrer" reagiert hat, vielmehr ist sie auf die weitere Frage zu erstrecken, ob ein "Idealfahrer" überhaupt in eine solche Verkehrslage geraten wäre (BGH NZV 1992, 229). Diesem Sorgfaltsmaßstab entsprochen zu haben, nimmt keine der Parteien für sich in Anspruch. Dies ist auch nicht ersichtlich.

a) Der von dem Beklagten zu 1. zum Zwecke des Überholens vorgenommene verkehrsgefährdende Fahrstreifenwechsel von der rechten auf die linke Fahrspur der L ... stellt sich als ein besonders schwerwiegender Verstoß gegen § 5 Abs. 4 StVO dar.

aa) Gegen den Kläger spricht nicht der Anscheinsbeweis des Auffahrenden. Der Anscheinsbeweis ist bereits dann, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen die Möglichkeit besteht, dass sich der Unfall durch einen atypischen Verlauf ereignet haben mag, erschüttert. Der Beweis des ersten Anscheins gegen den Auffahrenden setzt nämlich voraus, dass beide Fahrzeuge – unstreitig oder erwiesenermaßen – so lange in einer Spur hintereinander hergefahren sind, dass sich beide Fahrzeugführer auf die vorangegangenen Fahrbewegungen hätten einstellen können (KG DAR 2006, 322, 323). Diese Voraussetzungen sind bei einem kurz zuvor vollzogenen Fahrspurwechsel des Vordermanns indessen nicht gegeben. Hier hat die erstinstanzliche Beweisaufnahme ergeben, dass sich der Auffahrunfall in einem engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang zu dem Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 1. zutrug (OLG Jena NZV 2006, 147; OLG Jena NZV 2006, 147, 148; OLG Saarbrücken MDR 2006, 329; OLG Naumburg NJW-RR 2003, 809).

Diese erleichterten Anforderungen an die Widerlegung des Anscheinsbeweises sind auf der Grundlage des Beweisergebnisses des Landgerichts erfüllt: Angesichts der nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen, denen der Senat nach eigener kritischer Würdigung und Anhörung des Sachverständigen folgt, ist zumindest ebenso wahrscheinlich, dass sich der Unfall deshalb ereignete, weil der Beklagte zu 1. bei dem Fahrstreifenwechsel die strengen Sorgfaltsanforderungen des § 5 Abs. 4 StVO nicht einhielt. Mithin ist die Möglichkeit, dass den Beklagten zu 1) an der Verursachung des Unfalls kein Verschulden trifft, nicht lediglich theoretisch denkbar, sondern - gestützt auf das Sachverständigengutachten - hinreichend konkret. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 30. Juli 2010 (S. 18) ausgeführt, der Beklagte zu 1. habe die Mittellinie erst kurz vor dem Kollisionszeitpunkt überfahren, was sich aus dem geringen Abstand von nur 20 cm zur Mittellinie ergebe. Ausweislich der Skizzen 2 und 3 begann der Beklagte erst ca. 35 m und ca. 1,5 s vor dem Kollisionspunkt mit dem Fahrstreifenwechsel, sodass er letztlich erst kurz vor der Kollision diesen abgeschlossen hatte.

Der vom Sachverständigen festgestellte Schrägaufprall spricht ebenfalls für den behaupteten Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 1. (KG MDR 2001, 808). Der Sachverständige hat festgestellt, dass das Krad bei Kollision bei Winkelstellung von ca. 19 ° zum Fahrbahnverlauf aufwies, weil der Kläger eine Vollbremsung eingeleitet hatte. auch der Umstand, dass die Kollision auf der linken Fahrzeugseite des Beklagtenfahrzeuges erfolgte, weil sich ausweislich der Spurenlage der Beklagte mit seiner rechten Fahrzeugseite erst ca. 20 cm neben der Mittellinie befand, spricht für den Fahrspurwechsel (vgl. hierzu auch OLG Naumburg, NZV 2008, 618).

b) Gemäß § 5 Abs. 4 StVO muss sich derjenige, der zum Überholen ausscheren will, so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Der Überholende ist vor dem Ausscheren zur Einhaltung der äußersten Sorgfalt verpflichtet; das heißt es ist äußerste Sorgfalt erforderlich sowohl im subjektiven als auch im objektiven Bereich. Muss der Überholende die Fahrlinie über die linke Begrenzung des Fahrstreifens verlegen, so gebietet bereits § 5 Abs. 4 StVO eine Rückschaupflicht (Hentschel, aaO, § 5 Rn 42). Jeder Fahrbahnwechsel ist rechtzeitig und deutlich durch den Fahrtrichtungsanzeiger anzukündigen. Auch hier setzt die Einhaltung der äußersten Sorgfalt eine ausreichende Beobachtung des rückwärtigen Verkehrsraums voraus, die unter Umständen, insbesondere bei längerem Ablauf des Fahrstreifenwechsels eine zweite Rückschaupflicht umfasst (Hentschel, aaO, § 7 Rn. 17 mit weiterem Nachw.; OLG Jena, NZV 2006, 147, 148; OLG Saarbrücken, MDR 2006, 329; OLG Hamm, NZV 2002, 373).

Hätte der Beklagte zu 1. diesen hohen Sorgfaltsanforderungen entsprochen, hätte er erkennen können und müssen, dass sich der Kläger bereits im Überholvorgang befand und mit erheblicher Geschwindigkeit näherte.

Das steht zur Überzeugung des Senats nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest. Der Sachverständige Dipl. Ing. K. hat im Wesentlichen festgestellt und ausgeführt: Ausgehend davon, dass der Beklagte zu 1. mit einer Ausgangsgeschwindigkeit von ca. 85 bis 95 km/h gefahren sei, könne die Geschwindigkeit des Klägers zum Reaktionszeitpunkt aufgrund der vorhandenen Spurenlage sich auf ca. 139 bis 160 km/h zurückgerechnet werden. Danach war der Kläger – wie auch aus den Skizzen II und III zu den Gutachten aus der ersten Instanz ersichtlich sei – mindestens 3,5 bis 3,7 sec. vor der Kollision im Falle einer gleichförmigen Annäherung und sogar ca. 4,5 sec vor der Kollision im Falle einer dynamischen Geschwindigkeit für den Beklagten zu 1. sichtbar. Der Beklagte hätte zu diesem Zeitpunkt bei entsprechender Rückschau den deutlich sichtbaren Kläger erkennen können.

Der Senat folgt nach eigner kritischer Würdigung dem Ergebnis des Sachverständigen. Der Sachverständige hat sowohl detaillierte und fachlich nachvollziehbare schriftliche Gutachten vorgelegt als auch bei seiner mündlichen Anhörung detailliert dargelegt, dass anhand der unstreitigen Tatsachen, der Spurenlage und der Zeugenaussagen ein sicherer Rückschluss darauf möglich ist, in welchem zeitlichen und räumlichen Abstand sich die Parteien zueinander befanden.

Wegen des in § 5 Abs. 4 S. 1 StVO normierten hohen Sorgfaltsmaßstabes war der Beklagte zu 1. zur Rückschau verpflichtet, als er sich unmittelbar vor dem Überfahren der Mittellinie befand. Hätte er dies getan, hätte er erkennen können und müssen, dass der Kläger sich bereits im Überholvorgang befand.

Der Beklagte war also verpflichtet, seinen Überholvorgang abzubrechen, was ihm, wie der Sachverständige ebenfalls im Termin ausgeführt hat, ohne Weiteres noch möglich gewesen wäre (OLG Celle, OLGR Celle, 2004, 91). Er hat also den Unfall mitverschuldet.

c) Dass der Kläger eine über 100 km/h liegende Geschwindigkeit gefahren ist, entlastet den Beklagten im Hinblick auf seine sich aus § 5 Abs. 4 StVO ergebenden Sorgfaltspflichten nicht. Denn der nachfolgende Verkehr genießt den Schutz des § 5 Abs. 4 StVO selbst dann, wenn er sich mit hoher Geschwindigkeit nähert (BGH NJW 1986, 1044, OLG Naumburg, NZV 2008, 618).

2. Auch der Kläger hat sich nicht nach §§ 17 Abs. 3, § 18 Abs. 3 StVG zu entlasten vermocht. Unabwendbarkeit im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG verlangt nämlich zugleich, dass der Idealfahrer die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit einhält, die vorliegend gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 c) StVO 100 km/h betrug. Damit trifft auch ihn ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalles. Der Sachverständige hat zurückrechnen können, dass der Kläger während des Überholvorganges eine Geschwindigkeit von 139 bis 160 km/h erreicht hat.

Der Kläger hat somit die zulässige Höchstgeschwindigkeit gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 c) um jedenfalls 39 km/h überschritten. Dass eine höhere Geschwindigkeitsüberschreitung vorlag, haben die insoweit darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten nicht bewiesen (BGH NJW 2000, 3069; Hentschel-König, aaO, § 17 StVG, Rn. 5). Diese Geschwindigkeitsüberschreitung ist auch unfallursächlich gewesen. Auch das hat der Sachverständige überzeugend ausgeführt. Wenn nämlich der Kläger zu dem Zeitpunkt, als der Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 1. für ihn ersichtlich wurde, die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eingehalten hätte, hätte er noch unfallvermeidend reagieren können bzw. wäre es wegen mangelnder Differenzgeschwindigkeit nicht zum Unfall gekommen. Das war ihm bei der tatsächlichen Geschwindigkeit von mind. 139 km/h nicht mehr möglich.

3. Im Übrigen greifen die Einwendungen des Klägers gegen das Sachverständigengutachten nicht durch.

39 Der Senat hält die Schlussfolgerungen des Sachverständigen für nachvollziehbar. Dieser hat die Unfallstelle besichtigt und die Schadensspuren an den beteiligten Fahrzeugen ausgewertet. Der Sachverständige hat damit seiner Begutachtung zutreffende Befundtatsachen zugrunde gelegt. Seine Schlussfolgerungen sind nachvollziehbar, wobei sich der Sachverständige auch mit den Einwendungen der Parteien auseinandergesetzt hat. Dabei ist der Schrägaufprall des Motorrades nachvollziehbar geworden. 4. a) Einer Verwertung des Sachverständigengutachtens stand hier nicht entgegen, dass der Kläger den Sachverständigen K. mit Schriftsatz vom 21. Februar 2011 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt hatte (Bl. 50 Bd. II d. A.). Das Landgericht hat über das Ablehnungsgesuch zwar - wie der Kläger mit der Berufungsbegründung gemäß §§ 529 Abs. 2 S. 1, 524 Abs. 3 S. 2, 520 Abs. 3 Nr. 2 ZPO rügt – entgegen § 406 Abs. 4 ZPO nicht im Wege eines Beschlusses entschieden. Es hat die Ausführungen des Sachverständigen K. vielmehr im angegriffenen Urteil uneingeschränkt als Beweisergebnis gewürdigt und damit das Ablehnungsgesuch der Sache nach zurückgewiesen. Wird über die Ablehnung eines Sachverständigen nicht mit Beschluss, sondern im instanzabschließenden Urteil entschieden, ist das Urteil wegen dieses Verfahrensfehlers nur dann anfechtbar, wenn eine sofortige Beschwerde nach § 406 Abs. 5 ZPO gegen einen ablehnenden Beschluss gemäß § 406 Abs. 4 ZPO Erfolg gehabt hätte. Eine entsprechende Prüfung kann der Senat selbst vornehmen (Zöller-Greger, ZPO, 29. Aufl., § 406 Rn. 14 a; OLG Naumburg, OLGR Naumburg, 2008, 67).

Die sofortige Beschwerde gegen einen das Ablehnungsgesuch zurückweisenden Beschluss des Landgerichts wäre zurückzuweisen gewesen. Eine begründete Ablehnung des Sachverständigen Dipl. Ing. K. wegen Besorgnis der Befangenheit nach §§ 406 Abs. 1 S. 1, 42 Abs. 2 ZPO setzte voraus, dass ein Grund vorlag, der geeignet war, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen zu rechtfertigen. Der Kläger hat sein Ablehnungsgesuch maßgeblich darauf gestützt, dass der abgelehnte Sachverständige fehlerhafte Anknüpfungstatsachen seinem Gutachten zugrunde gelegt habe. Damit hat sich der Kläger auf Bedenken gegen die Sachkunde des Gutachters gestützt, welche eine Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit nicht rechtfertigen können (Zöller-Greger, aaO, § 406 Rn. 9).

b) Auch aus § 412 Abs. 1 ZPO ergibt sich die Notwendigkeit der Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht. Voraussetzung hierfür wäre, dass das Gutachten unvollständig, nicht nachvollziehbar oder in sich widersprüchlich wäre, der Sachverständige nicht über die notwendige Sachkunde verfügt oder die sogenannten Anschlusstatsachen nicht mehr zutreffen. Der Kläger hat zwar mit seiner Berufungsbegründung versucht, diese Voraussetzungen aufzuzeigen, allerdings greifen sämtliche Einwendungen nicht durch. Der Sachverständige hat sich vielmehr umfänglich und widerspruchsfrei mit den Einwendungen des Klägers auseinandergesetzt.

5. Gemäß § 17 Abs. 1 StVG bestimmt sich die Verpflichtung zum Ersatz des Schadens sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere danach, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. In die Abwägung dürfen neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur erwiesene Umstände eingestellt werden.

Die Abwägung der beiderseitigen Verschuldensanteile führt im Ergebnis dazu, dass diese gleichhoch zu bewerten sind. Gerade der Umstand, dass der Kläger nach seiner Darstellung vier, nach der Beweisaufnahme sogar fünf Fahrzeuge, nach einer langen Rechtskurve, in der ein Überholen für die in der Kolonne fahrenden Fahrzeuge nicht möglich war, überholen wollte, hätte ihn zu besonderer Vorsicht anhalten müssen. Er hätte mit Überholmanövern der zu überholenden Fahrzeuge rechnen müssen. Daher ist seine – doch recht hohe – Geschwindigkeitsüberschreitung im Ergebnis nicht geringer zu gewichten, als die Rückschaupflichtverletzung durch den Beklagten zu 1.

Das rechtfertigt zur Überzeugung des Senats den Ansatz einer erhöhten Betriebsgefahr, denn den Überholenden einer Kolonne trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht. Bereits das Überholen eines Fahrzeuges birgt stets ein besonderes Gefahrenpotential (OLG Karlsruhe, NZV 2001, 473), erst Recht, wenn der Überholende mit überhöhter Geschwindigkeit fährt (OLG Celle, Urteil vom 17. Juli 2003, 14 U 74/02, zitiert nach Juris).

6. Unter Berücksichtigung der Mithaftungsquote von 50 % ergibt sich ein materieller Schadenersatzanspruch in Höhe von 2.972,39 EUR.

Der Sachschaden an dem Krad in Höhe von 4.950,00 EUR ist zwischen den Parteien unstreitig. Der Kläger kann darüber hinaus den hälftigen Anteil der Auslagenpauschale in Höhe von 25,00 EUR verlangen.

Der Kläger hat auch Anspruch auf die Kosten für die beschädigte Schutzkleidung, und zwar für die Jacke, die Hose, die Handschuhe sowie den Helm. Hinsichtlich der weiteren geltend gemachten Gegenstände, nämlich der langen Unterhose und des Helmrucksackes hat der Kläger weder Fotos vorgelegt, aus denen sich eine Beschädigung ergibt, noch weiteren Vortrag gehalten. Damit ergibt sich ein Neuwert der am 27. März 2009 gekauften Gegenstände von 969,78 EUR.

Es kann dahinstehen, ob ein Abzug „neu für alt“ hinsichtlich der Ersatzleistung für die Motorradfahrerschutzkleidung des Klägers vorzunehmen ist. Die Höhe des Abzugs ist regelmäßig nach dem Verhältnis der Nutzungsdauer des alten und des neuen Gegenstands zu bemessen (BGH VersR 1959, 399 = NJW 1959, 1078; Palandt/Heinrichs, BGB 71. Aufl. vor § 249 Rn. 127) oder der gegenteiligen Auffassung (z.B. LG Darmstadt, DAR 2008, 89 m.w.N.)zu folgen ist. Es sind insoweit die allgemeinen Grundsätze des Schadensrechts anzuwenden (OLG Karlsruhe VersR 2010, 491). Ein solcher Abzug ist hier gemäß § 287 ZPO nicht vorzunehmen, weil die Kleidung erst drei Monate vor dem Unfallereignis erworben wurde und daher im Hinblick auf die besondere Haltbarkeit von Motorradschutzkleidung ein Abzug nach so kurzer Tragezeit nicht vorzunehmen ist.

7. Der Kläger hat auch Anspruch auf ein angemessenes Schmerzensgeld, welches der Senat unter Berücksichtigung der Mitverschuldensquote auf 1.000,00 EUR bemisst. Bei der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes hat der Senat folgende Umstände berücksichtigt: Der Kläger hat trotz des schweren Unfallherganges keine Dauerfolgen davongetragen, der stationäre Aufenthalt beschränkte sich auf 9 Tage. Weitere Beeinträchtigungen bestanden lediglich darin, dass der Kläger noch sechs Wochen lang Gips tragen musste und sich in physiotherapeutische Behandlung begeben musste. Die Verletzungen waren glücklicherweise schnell ausgeheilt (LG Berlin, Urteil vom 21. April 1998, 20 O 328/97, zitiert nach Juris; OLG Celle, aaO).

Auf diesen Betrag kann der Kläger gemäß §§ 288 Abs. 1 BGB Zinsen ab dem 8. September 2009 verlangen.

8. Der Feststellungsantrag des Klägers ist nicht begründet. Das Feststellungsinteresse im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO hinsichtlich eines solchen - vorliegend noch auf § 7 Abs. 1 StVG, 823 Abs. 1 BGB gegründeten - Schadensersatzanspruchs, der noch nicht abschließend mit der Leistungsklage geltend gemacht werden kann, ist grundsätzlich dann zu bejahen, wenn der Anspruchsgegner seine haftungsrechtliche Verantwortlichkeit in Abrede stellt und durch die Klageerhebung einer drohenden Verjährung nach § 14 StVG entgegengewirkt werden soll. Geht es dabei wie hier um den Ersatz erst künftig befürchteten Schadens aufgrund einer nach Behauptung der Kläger bereits eingetretenen Rechtsgutsverletzung, so setzt das Feststellungsinteresse weiter die Möglichkeit dieses Schadenseintritts voraus; diese ist zu verneinen, wenn aus der Sicht des Klägers bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines derartigen Schadens wenigstens zu rechnen (BGH NJW 2001, 1431).

Hierzu verhält sich der Vortrag des Klägers nicht. Vielmehr scheint die Verletzung folgenlos verheilt zu sein. Dass daher noch weitere Schäden befürchtet werden müssten, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Darüber hinaus kann der Kläger wegen der ihm durch den Unfall entstandenen materiellen Schäden Zahlung weiteren Schadenersatzes nicht verlangen, weil diese auf der Grundlage der ausgeurteilten Haftung von 50 % erfüllt sind. Der Kläger kann daher auch nicht die Feststellung verlangen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihm zukünftige materielle Schäden zu ersetzen.

9. Die Beklagten sind verpflichtet, als Gesamtschuldner dem Kläger vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten nach einem Gegenstandswert von 4.031,86 EUR in Höhe von 446,13 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 08. September 2009 zu ersetzen (§ 249 BGB).

Die Kosten der Rechtsverfolgung hat nach § 249 Abs. 1 BGB grundsätzlich der Schädiger zu tragen. Kosten, die durch die Geltendmachung eines auf Schadensersatz gerichteten Anspruches entstehen, kann der Gläubiger auch ohne die Voraussetzungen des Verzuges geltend machen (Palandt/Grüneberg, BGB, 71. Aufl., § 249 Rn. 56).

10. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Die Streitwertentscheidung beruht auf §§ 3 ZPO, 47, 48 Abs. 1 GKG. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.