Das Verkehrslexikon

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Kammergericht Berlin Urteil vom 02.07.2007 - 22 U 198/06 - Zur Haftung bei einem bei Kfz-Unfall in einer Engstelle

KG Berlin v. 02.07.2007: Zur Haftung bei einem bei Kfz-Unfall in einer Engstelle


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 02.07.2007 - 22 U 198/06) hat entschieden:
Derjenige, auf dessen Seite sich ein Hindernis befindet, ist gegenüber entgegenkommendem Verkehr wartepflichtig. Aus § 6 StVO sich auch Sorgfaltspflichten des wartepflichtigen Fahrzeugführers, auf dessen Fahrbahn sich das Hindernis befindet. Er muss vor einer unübersichtlichen Engstelle besonders vorsichtig prüfen, ob das Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde. Ist an einer unübersichtlichen Engstelle Gegenverkehr nicht erkennbar, so darf nur mit größter Vorsicht an einem Hindernis unter Benutzung der Gegenfahrbahn vorbeigefahren werden, unter Umständen ist Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, so dass bei Auftauchen eines entgegenkommenden Fahrzeuges sofort angehalten werden kann. Allerdings muss auch der entgegenkommende Bevorrechtigte notfalls auf sein Vorrecht verzichten, so dass es zu einer Mithaftung des Bevorrechtigten kommen kann.


Siehe auch Begegnungsunfall - Annäherung an Engstellen mit Gegenverkehr und Vorbeifahren (an haltenden Fahrzeugen)


Gründe:

Von der Darstellung tatsächlicher Feststellungen nach § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. § 26 Nr. 5 EGZPO) abgesehen.

A.

Die Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

Der Kläger hat gegen die Beklagten unter Berücksichtigung der bereits vorprozessual gezahlten 5.159,25 EUR einen Anspruch auf Zahlung von weiteren 2.579,63 EUR nach § 823 BGB, §§ 7, 18 StVG i.V.m. § 3 PflVG. Die Beklagten haften für die Schäden des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 10. Januar 2006 zu 75 %, § 17 Abs. 1 StVG.

Unter Zugrundelegung des sich aus dieser Quote ergebenden Schadensersatzanspruchs kann der Kläger ferner die Freistellung von Anwaltskosten in Höhe von 123,96 EUR beanspruchen.

1. § 6 StVO beinhaltet nicht nur eine Regelung darüber, welches Fahrzeug zuerst an einer Engstelle vorbeifahren darf, wenn beim Passieren der Engstelle nicht mehr genug Platz für zwei nebeneinander befindliche Fahrzeuge verbleibt. D.h., die Vorschrift ist nicht erst dann einschlägig, wenn der am Hindernis Vorbeifahrende den Gegenverkehr wahrgenommen hat. Vielmehr ergeben sich aus § 6 StVO auch dieser Situation vorausgehende Sorgfaltspflichten des wartepflichtigen Fahrzeuges, auf dessen Fahrbahn sich das Hindernis befindet. Denn der Wartepflichtige kann seiner Wartepflicht nur dann sinnvoll nachkommen, wenn die nachfolgend beschriebenen Sorgfaltspflichten beachtet werden:

Danach muss der Wartepflichtige vor einer unübersichtlichen Engstelle besonders vorsichtig prüfen, ob das Vorbeifahren den Gegenverkehr behindern würde. Ist an einer unübersichtlichen Engstelle Gegenverkehr nicht erkennbar, so darf nur mit größter Vorsicht an einem Hindernis unter Benutzung der Gegenfahrbahn vorbeigefahren werden, unter Umständen ist Schrittgeschwindigkeit einzuhalten, so dass bei Auftauchen eines entgegenkommenden Fahrzeuges sofort angehalten werden kann, d.h. wenn beim Vorbeifahren am Hindernis an unübersichtlicher Stelle jederzeit Gegenverkehr auftauchen kann, so muss der Vorbeifahrende sofort anhalten oder die Gegenfahrbahn räumen können (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Auflage, § 6 StVO Rdnr. 4 m.w.N.). Es ist also der Wartepflichtige, der im besonderen Maße zur Vorsicht verpflichtet ist; dazu gehört, dass er bei Annäherung an die Engstelle, die eigene Geschwindigkeit herabsetzt und beobachtet, ob nicht Gegenverkehr naht, vgl. OLG Karlsruhe, DAR 1989, 106.

Bei Beachtung der danach erforderlichen Sorgfalt hätte der Beklagte zu 1. in Anbetracht der Unübersichtlichkeit der Engstelle und der winterlichen Straßenverhältnisse seine Geschwindigkeit so herabsetzen müssen, dass es ihm jederzeit möglich gewesen wäre, umgehend zum Stehen zu kommen, was im konkreten Fall tatsächlich Schrittgeschwindigkeit bedeutet hätte.

2. Allerdings obliegen nicht nur dem Wartepflichtigen Sorgfaltspflichten – auch wenn er in erster Linie die Pflicht zur Prüfung hat, ob ein behinderungsfreies Passieren der Engstelle möglich ist, OLG Karlsruhe a.a.O. -, sondern auch der Bevorrechtigte hat Sorgfaltspflichten, die sich aus § 1 StVO (Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme) und § 11 StVO ergeben, wonach in besonderen Verkehrslagen der an sich vorrangige Fahrer auf sein Recht verzichten muss.

Bei der hier vorliegenden Verkehrssituation (unübersichtliche Kurve, parkende Fahrzeuge auf der Gegenfahrbahn) musste auch der Kläger mit Gegenverkehr auf seiner Fahrbahnseite rechnen. Angesichts der Glätte, wäre daher noch ein weiteres Herabsetzen der Geschwindigkeit erforderlich gewesen, um gegebenenfalls schnell zum Stehen zu kommen, vgl. zur Mithaftung in dieser Situation Henschel a.a.O. Dieses war bei der vom Kläger selbst vorgetragenen Geschwindigkeit von 20 bis 25 km noch nicht der Fall.

3. Im Hinblick darauf, dass es in erster Linie der Wartepflichtige ist, der die Pflicht zur Prüfung hat, ob ein behinderungsfreies Passieren der Engstelle möglich ist (s.o.), hält der Senat eine Haftungsverteilung von 75 % ./. 25 % für angemessen, da sie den größeren Pflichtenverstoß des Beklagten zu 1. deutlich zum Ausdruck bringt.

4. Die von ihm selbst in Abrede gestellte Äußerung des Klägers nach dem Unfall gegenüber den aufnehmenden Polizisten, er habe „zu spät gebremst“, spielt für die Entscheidung des vorliegenden Falles ohnehin keine Rolle.

Zwar sind Äußerungen zum Unfallhergang, die von Unfallbeteiligten unmittelbar nach dem Unfall gemacht werden, insofern von Bedeutung, als in der Regel davon ausgegangen werden kann, dass diese Aussagen noch nicht von tiefer gehenden Überlegungen darüber geprägt sind, ob ein Umstand sich günstig oder ungünstig auf die Haftung auswirken könnte. Allerdings gilt dieses nicht für Äußerungen, die nur Ausdruck eines subjektiven Empfindens sind, und eine reine Bewertung darstellen, da diese Äußerungen zum einen oft noch vom Unfallerleben geprägt sind und es im Übrigen nicht Sache der Beteiligten, sondern des Gerichts ist, die Schuldfrage zu klären.

5. Hinsichtlich der einzelnen Schadenspositionen besteht nur noch Streit über die Position „Nutzungsausfallentschädigung“, nachdem der Kläger in den Ausführungen auf den Seiten 5 f. des Schriftsatzes vom 8. September 2006 (Bl. 58 f. d.A.) - insoweit unwidersprochen - auf die zuvor geäußerten Einwendungen der Beklagten gegen einzelne Positionen eingegangen ist.

Aber auch bei der Position „Nutzungsausfallentschädigung“ ist – entsprechend dem Vorbringen des Klägers – von einer Reparaturdauer von 15 Tagen und einem Tagessatz von 65 EUR auszugehen. Die Beklagte zu 2. hat diese Daten in ihrem Abrechnungsschreiben vom 10. Januar 2006 (Anlage K 5, Bl. 28 d.A.) ebenfalls zugrunde gelegt, so dass nicht ersichtlich ist, aus welchem Grunde, sie diese Daten jetzt nicht mehr für zutreffend hält und sie sich nicht auf einfaches Bestreiten beschränken kann. Darüber hinaus ergibt sich aus der vom Kläger eingereichten Rechnung der Firma A. H. GmbH vom 7. Februar 2006 (Anlage K 2, Bl. 8 d.A.), dass das Fahrzeug am 17. Januar 2006 angenommen wurde und als „Leistungsdatum“ der 31. Januar 2006 genannt wird; zwischen den beiden Daten liegen 15 Kalendertage.

6. Bei der Berechnung des Freistellungsbetrages geht der Senat davon aus, dass jedenfalls die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers letztlich zugrunde gelegte 1,1 Geschäftsgebühr ohne weiteres angemessen ist. Wegen der Begründung kann auf die Aufführungen auf den Seiten 6,7 des Schriftsatzes des Klägers vom 8. September 2006 (Bl. 59, 60 d.A.) verwiesen werden.

Bei einem Wert von 2.579,63 EUR beträgt 1,1 Geschäftsgebühr 207,90 EUR. Davon ist jedoch nur ½, also 103,96 EUR auf die gerichtliche Verfahrensgebühr anzurechnen. Nicht angerechnet werden also die andere Hälfte und die außergerichtliche Auslagenpauschale von 20 EUR, so dass sich insgesamt ein nicht anrechenbarer Betrag von 123,96 EUR ergibt, vgl. die entsprechende Berechnung des Klägers auf Seite 4 des Schriftsatzes vom 2. Mai 2006, Bl. 4 d.A.).

B.

Die Revision war nach § 543 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 ZPO i.V.m. § 26 Ziffer 7 EGZPO nicht zuzulassen, da die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 92, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.