Das Verkehrslexikon

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Amtsgericht Nauen Urteil vom 24.11.2005 - 12 C 63/05 - Haftungsverteilung zwischen Krad und Pkw beim Überholen einer Kolonne

AG Nauen v. 24.11.2005: Zur Haftungsverteilung zwischen Krad und Pkw beim beiderseitigen Überholen einer Kolonne


Das Amtsgericht Nauen (Urteil vom 24.11.2005 - 12 C 63/05) hat entschieden:
Wenn ein Fahrzeugführer das Überholen einer Kolonne einleitet, obwohl er bei gehöriger Rückschau hätte erkennen können, dass ein Motorradfahrer bereits im Überholen der Kolonne begriffen war, trifft sowohl ihn wie auch den Kradfahrer ein Verschulden an einer Kollision (70% zu 30% zulasten des Motorradfahrers).


Siehe auch Unfälle mit Kradbeteiligung - Motorradunfälle und Überholen einer Kolonne


Tatbestand:

Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 22.11.2003 auf der L 20 von Falkensee in Richtung Schönwalde ereignet hat.

Die Klägerin ist Eigentümerin und Halterin des Motorrades der Marke Suzuki GS 500 E, mit dem amtlichen Kennzeichen HVL ...

Die Beklagte zu 1. ist Halterin und Fahrerin des Fahrzeuges der Marke Daewoo, amtliches Kennzeichen B ..., welches bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversichert ist.

Der Zeuge F befuhr mit dem Motorrad der Klägerin zum Unfallzeitpunkt die L 20 von Falkensee kommend in Richtung Schönwalde in einer Fahrzeugschlange.

Die Beklagte zu 1. befuhr mit ihrem Kraftfahrzeug die L 20 in gleicher Richtung vor dem Zeugen F. Am Ausgang des Ortes Falkensee war eine Baustellenampel eingerichtet, vor der sich eine Autoschlange gebildet hat. Kurz vor der Grünphase fuhr ein Lkw von dem neben der linken Straßenseite befindlichen Gelände auf die rechte Fahrbahn und setzte sich vor die Fahrzeugschlange.

Nachdem die Ampel auf grün schaltete, setzte sich die Fahrzeugschlange in Bewegung. Als der Lkw seine Geschwindigkeit an einer Baustelle verlangsamte, wurde er von mehreren Fahrzeugen, die vor der Beklagten zu 1. fuhren, überholt.

Die Beklagte zu 1. fuhr dann unmittelbar hinter dem Lkw, der zum Stillstand gekommen war und beabsichtigte ebenfalls einen Überholvorgang einzuleiten. Der Zeuge F, der seinerseits den Überholvorgang eingeleitet hatte, leitete eine Vollbremsung ein, um eine Kollision mit dem von der Beklagten zu 1. geführten Fahrzeug zu vermeiden. Hierdurch blockierte das Hinterrad des Motorrades, der Zeuge verlor die Kontrolle über das Motorrad und stürzte.

An dem Motorrad entstand ein wirtschaftlicher Totalschaden.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Klägerin nunmehr vollen Ersatz des ihr entstandenen Schadens in Höhe des Wiederbeschaffungswertes von 1.800,00 Euro, die Kosten für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens in Höhe von 321,32 Euro, nachdem die Beklagte zu 2. einen Betrag in Höhe von 187,83 Euro an die Klägerin gezahlt hat.

Die Klägerin trägt vor, die vor dem Zeugen F fahrenden Kraftfahrzeuge hätten keinen Versuch unternommen, den Lkw zu überholen. So habe sodann der Zeuge F zum Überholen angesetzt.

Er habe den linken Blinker gesetzt, nachdem er sich davon überzeugt habe, dass kein vorausfahrendes Kraftfahrzeug ebenfalls zum Überholen angesetzt habe und kein Gegenverkehr in Sichtweite gewesen sei. Er sei dann auf die Überholspur ausgeschert und habe das Motorrad auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h beschleunigt.

Nachdem der Zeuge F bereits zwei Kraftfahrzeuge überholt gehabt habe, habe sich die Beklagte zu 1. zum Überholen entschlossen. Dabei habe sich die Beklagte zu 1. nicht versichert, ob die Überholspur frei sei, sie habe weder in den Rückspiegel noch über die Schulter geschaut.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagten zu verurteilen, an sie gesamtschuldnerisch einen Betrag in Höhe von 1.733,39 Euro nebst fünf Prozent Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.02.2005 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten tragen vor, die Beklagte zu 1. habe das von ihr geführte Kraftfahrzeug zunächst bis zur Straßenmitte gelenkt, um sich zu vergewissern, dass sich kein Gegenverkehr nähere. Da Gegenverkehr zu sehen gewesen sei, habe sie diesen zunächst passieren lassen. Als sie dann gesehen habe, dass kein Gegenverkehr komme, habe sie sich durch Rückschau und Blick in den Rückspiegel vergewissert, dass sie den Überholvorgang ohne Behinderung oder Gefährdung nachfolgender Fahrzeuge habe einleiten können. Sie habe dann den linken Blinker gesetzt und zügig mit dem Überholen des sehr langsam auf der rechten Fahrspur fahrenden und mit Füllsand beladenen Lkws begonnen. Als das von ihr geführte Fahrzeug in Höhe des Fahrerhauses des Lkws gewesen sei, habe sich die Beklagte bei einer Geschwindigkeit von ca. 60 - 70 km/h wieder nach rechts einordnen wollen, als es einen lauten Knall gegeben habe.

Die Beklagte zu 1. sei nach rechts an den Straßenrand gefahren und ausgestiegen.

Die Beklagte zu 1. habe sich bei der Durchführung des Überholvorganges verkehrsgerecht verhalten.

Der Zeuge F habe den Unfall selbst verschuldet, da er bei unsicherer Verkehrslage und mit überhöhter Geschwindigkeit überholt habe. Er habe mit dem Überholvorgang begonnen, obwohl nicht zu übersehen gewesen sei, dass während des ganzen Überholvorganges jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen sei. Auch habe der Zeuge F erkannt, dass die ihm vorausfahrenden Fahrzeuge ebenfalls den Lkw überholen wollten, und habe daher damit rechnen müssen, dass auch das nächste Fahrzeug diesen überholen werde. Daher habe der Zeuge F den Unfall durch seine eigene Unaufmerksamkeit beim Überholen, durch überhöhte Geschwindigkeit und seinen Fahrfehler verursacht.

Das Gericht hat gem. Beweisbeschluss vom 06.04.2005 (Bl. 40 d. A.) sowie vom 24.06.2005 (Bl. 79 d. A.) Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen.

Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die gerichtlichen Niederschriften vom 06.04.2005 (Bl. 40 ff. d. A.), vom 11.08.2005 (Bl. 82 ff. d. A.) sowie vom 03.11.2005 (Bl 102 ff. d. A.) verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und auf die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen. Die Akte der Staatsanwaltschaft Potsdam, Az.: 34 Owi 443 Js - Owi 8458/04 (157/04), lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist teilweise begründet.

Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten als Gesamtschuldner ein Schadensersatzanspruch in Höhe von 248,37 Euro gem. §§ 823 BGB, 7, 17, 18 StVG, 3 Pflichtversicherungsgesetz zu.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht davon überzeugt, dass der Verkehrsunfall vom 22.11.2003 auf der L 20 in Richtung Schönwalde sowohl auf ein schuldhaftes Verhalten des Zeugen F, der das klägerische Motorrad führte, als auch der Beklagten zu 1. zurückzuführen ist.

Unter Würdigung aller Umstände und bei Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge sowie unter Berücksichtigung der von den unfallbeteiligten Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr, erachtet das Gericht eine Haftungsquote von 70 % (Zeuge F), zu 30 % (Beklagte zu 1.) als angemessen.

Die Beklagte zu 1. hat den Unfall schuldhaft herbeigeführt, weil sie zu einem Zeitpunkt den Überholvorgang eingeleitet hat, zu welchem der Zeuge F mit dem von ihm geführten klägerischen Motorrad sich bereits auf der Überholspur befunden hat.

Die Beklagte hat daher gegen die ihr nach § 5 StVO obliegenden Sorgfaltspflicht verstoßen.

Nach § 5 Abs. 4 StVO muss derjenige Fahrzeugführer, der zum Zwecke des Überholens ausscheren will, dies rechtzeitig und deutlich ankündigen und darüber hinaus durch eine rechtzeitige und sorgfältige Rückschau eine Behinderung oder Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs verhindern.

Gegen die ihr als Ausscherende insoweit treffende äußerste Sorgfalt hat die Beklagte zu 1. verstoßen. Zwar ist im Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass die Beklagte ihre Absicht, den Überholvorgang einzuleiten, durch Setzen des linken Blinkers angezeigt und sich zur Mittellinie eingeordnet hat, gleichwohl ist die Beklagte zu 1. auf die Gegenfahrbahn ausgeschert, als sich das von dem Zeugen F geführte Motorrad lediglich in einer Entfernung von 20 - 30 m hinter der Beklagten zu 1. befand.

So gab der Zeuge M. nachvollziehbar an, dass sich die Beklagte zu 1. auf der Hälfte der Gegenfahrbahn befunden habe, als das von dem Zeugen F geführte Fahrzeug an ihm vorbei gekommen sei. Da er sich mit dem von ihm geführten Kraftfahrzeug an vierter oder fünfter Stelle hinter dem von der Beklagten zu 1. geführten Kraftfahrzeug befunden habe, konnte der Zeuge angeben, dass sich das Motorrad ca. 20 - 30 m von dem von der Beklagten zu 1. geführten Kraftfahrzeug entfernt befunden habe, als es an ihm vorbeigefahren sei. Mithin ist nach den Bekundungen des Zeugen M. davon auszugehen, dass die Beklagte zu 1. bei ordnungsgemäßer Erfüllung ihrer Rückschaupflicht den Zeugen F, der bereits den Überholvorgang eingeleitet hat, hätte erkennen können und müssen. Dies gilt umso mehr, als nach den Bekundungen des Zeugen M. die Strecke in diesem Bereich auf eine Entfernung von 300 - 500 m gerade und daher auch gut einsehbar ist.

Soweit die Beklagte zu 1. vor Einleitung des Überholvorganges nach den glaubhaften Bekundungen des Zeugen P den linken Blinker setzt und in den linken Außenspiegel geschaut hat, so ist unter Berücksichtigung der Bekundungen des Zeugen M., wonach die Beklagte zu 1. zunächst bis an den Mittelstreifen herangefahren sei, kurz gestoppt habe, und dann ausgeschert sei, davon auszugehen, dass die Beklagte zu 1. anlässlich des nach dem Heranfahren an den Mittelstreifen eingeleiteten Überholvorganges ihrer zweiten Rückschaupflicht nicht Genüge geleistet hat.

Nach alledem hat die Beklagte zu 1. durch ihr Verhalten den nachfolgenden Verkehr und damit den Zeugen F gefährdet, so dass das Unfallereignis und damit der eingetretene Schaden auf ihr schuldhaftes Verhalten zurückzuführen ist.

Dabei ist unerheblich, dass der Schaden nicht durch eine unmittelbare Kollision beider Fahrzeuge eingetreten ist.

Die Klägerin muss sich jedoch gem. §§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 1 Satz 2 StVG den von dem Zeugen F gesetzten Ursachenbeitrag anrechnen lassen.

Zwar begründet alleine das Überholen der vor dem Zeugen F fahrenden Fahrzeugkolonne noch kein Verschulden des Zeugen F, gleichwohl muss der Überholer überblicken können, dass der gesamte Vorgang vom Ausscheren bis zum Wiedereingliedern für einen durchschnittlichen Fahrer ohne irgend ein Wagnis gefahr- und behinderungslos möglich sein werde. Danach verbietet gerade ein unklare Verkehrslage gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO jedes Überholen, wobei sich der Begriff der unklaren Verkehrslage nicht nach dem Gefühl des Überholwilligen, sondern gerade nach den objektiven Umständen richtet.

Nach diesen Grundsätzen ist eine unklare Verkehrslage insbesondere dann anzunehmen, wenn sich der Vorausfahrende unklar verhält, indem er auffällig seine Fahrtgeschwindigkeit verlangsamt, so dass sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt zugleich tun werde.

Nach den Bekundungen des Zeugen M. hat die Beklagte zu 1. den linken Blinker gesetzt und ist zunächst bis an den Mittelstreifen herangefahren. Nachdem sie dort kurz gestoppt habe, sei sie dann ausgeschert und auf die Gegenfahrbahn gefahren. Diese Bekundungen stehen im Einklang mit den Angaben des Zeugen F, der angab, dass er zu dem Zeitpunkt, als er bereits zwei Fahrzeuge überholt gehabt habe, gesehen habe, dass das von der Beklagten zu 1. geführte Kraftfahrzeug, welches sich unmittelbar hinter dem Lkw befand, in Richtung Fahrbahnmitte ausgeschert, und sodann wieder nach rechts gefahren sei. Mithin musste der Zeuge F nicht nur aufgrund des gesetzten linken Blinkers, sondern auch aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1. davon ausgehen, dass diese einen Überholvorgang einleiten wollte.

Angesichts des zögerlichen Verhaltens der Beklagten zu 1. bestand eine unklare Verkehrslage, bei der der Zeuge F nicht verlässlich beurteilen konnte, was die Beklagte zu 1. als Vorausfahrende zugleich tun werde. Vielmehr hätte sich der Zeuge F auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Beklagte zu 1. sich unmittelbar hinter einem stehenden Lkw befand, die Geschwindigkeit des von ihm geführten Motorrades verringern und eine Gelegenheit zum Einscheren nach rechts suchen müssen.

Bei der Abwägung der beiderseitigen Schadensverursachungsbeiträgen und der vorliegend zu berücksichtigenden Betriebsgefahr der unfallbeteiligten Fahrzeuge erachtet das Gericht eine Haftungsquote von 70 % (Zeuge F), zu 30 % (Beklagte zu 1.), als angemessen.

Die Klägerin kann demnach Ersatz von 30 % des ihr entstandenen Schadens gem. § 249 ff BGB beanspruchen.

Es ergibt sich folgendes Schadensbild:

1. Wiederbeschaffungswert 1.800,00 Euro
2. Sachverständigenkosten 321,32 Euro
Gesamtschaden 2.121,32 Euro
davon 30 % 636,40 Euro
abzüglich von der Beklagten zu 2. geleisteten Zahlung 387,93 Euro
  248,47 Euro


Der geltend gemachte Zinsanspruch ist gem. §§ 286 ff BGB gerechtfertigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in § 708 Nr. 11, 711 ZPO.