Das Verkehrslexikon

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OLG München Urteil vom 21.06.2013 - 10 U 1206/13 - Alleinhaftung des Wartepflichtigen bei Vorfahrtsverletzung

OLG München v. 21.06.2013: Alleinhaftung des Wartepflichtigen bei Vorfahrtsverletzung und Beweiswürdigung


Das OLG München (Urteil vom 21.06.2013 - 10 U 1206/13) hat entschieden:
  1. Die reine Betriebsgefahr des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs tritt hinter dem Verschulden des Wartepflichtigen zurück, wenn dem Vorfahrtsberechtigten kein eigener Verkehrsverstoß zur Last gelegt werden kann (Anschluss OLG Karlsruhe, 12. August 2008, 15 U 46/08, VersR 2009, 1419).

  2. Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche (Anschluss BGH, 19. April 2005, VI ZR 175/04, VersR 2005, 945). Fehlt es an derartigen Anhaltspunkten, ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden.

Siehe auch Das Vorfahrtrecht und Die Beweiswürdigung in Zivilsachen


Gründe:

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg. Die Klägerin ist nach der in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vorgelegten Abtretungserklärung auch aktivlegitimiert.

I.

Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Unfall allein auf die Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1) zurückzuführen ist. In einem derartigen Fall muss jedoch in Übereinstimmung mit der herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung eine Haftung des Vorfahrtsberechtigten aus Betriebsgefahr zurücktreten.

Auf Grund der in der Berufung nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts hatte die Fahrerin des klägerischen Fahrzeugs bereits zum Überholen angesetzt, als der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug in die bevorrechtigte Kreisstraße eingebogen ist. Da die Beklagten weder ihren Vortrag, die klägerische Fahrerin sei wieder eingeschert oder hätte auch rechtzeitig wieder einscheren oder ihren Überholvorgang abbrechen können, beweisen konnten, gleiches gilt hinsichtlich einer Geschwindigkeitsüberschreitung des klägerischen Pkws, konnte, wie das Landgericht rechtlich zutreffend folgerte, ein Mitverschulden der klägerischen Fahrerin nicht festgestellt werden. Entgegen der Auffassung des Erstgerichts tritt die reine Betriebsgefahr des vorfahrtsberechtigten Fahrzeugs hinter dem Verschulden des Wartepflichtigen (Verstoß gegen § 8 I Nr. 1 StVO) zurück, wenn dem Vorfahrtsberechtigten - wie gerade ausgeführt - kein eigener Verkehrsverstoß (etwa aus § 1 II StVO) zur Last gelegt werden kann (vgl. BGH DAR 1956, 328; OLG Karlsruhe DAR 1989, 422; VersR 2009, 1419; Senat NZV 1989, 438; KG NZV 2002, 79 = DAR 2002, 66; NZV 2003, 335).

Die Einwendungen der Beklagten hiergegen überzeugen nicht. Die beweiswürdigenden Ausführungen hinsichtlich der Zeugin R. lassen vermissen, welchen Fehler das Landgericht in seiner Beweiswürdigung insoweit begangen haben soll.

Der Senat ist aber nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. zuletzt BGH VersR 2005, 945; Senat in st. Rspr., etwa Urt. v. 09.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und zuletzt Urt. v. 20.05.2011 - 10 U 3958/10). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat a.a.O. ); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH a.a.O. ; Senat a.a.O. ). Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Berufung nicht aufgezeigt worden. Letztlich ersetzen die Beklagten lediglich ihre eigene Beweiswürdigung gegen diejenige des Landgerichts. Dies reicht nicht aus. Das Erstgericht hat zutreffend das Beweismaß des § 286 I 1 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet. Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.06.2010 - 10 U 2282/10 [juris = NJW-​Spezial 2010, 489 f. m. zust. Anm. Heß/Burmann) - absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39 [40] und zuletzt VersR 2007, 1429 [1431 unter II 2]; Senat NZV 2003, 474 [475] [Revision vom BGH durch Beschl. v. 01.04.2003 - VI ZR 156/02 nicht angenommen]; NZV 2006, 261; Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.06.2010 - 10 U 2282/10 [juris = NJW-​Spezial 2010, 489 f. m. zust. Anm. Heß/Burmann]).

Die Tatsache, dass die damalige Beschuldigte und jetzige Zeugin vor der Polizei keine Angaben zur Sache gemacht hat, war ihr gutes Recht und spricht nicht gegen sie. Bedeutsamer ist, dass der Beklagte zu 1) bei seinen Angaben vor der Polizei (vgl. Bl. 7 der beigezogenen Akten der StA Traunstein, Az. 360 Js 32444/11) wie teilweise auch vor dem Landgericht (vgl. Protokoll vom 24.04.2012, S. 3 = Bl. 22 d.A.) ausgesagt hat, er habe nochmals nach rechts geblickt, die Straße sei frei gewesen und er begann, abzubiegen. Nach den Gutachten des Sachverständigen T. ist dies jedenfalls widerlegt, da der Beklagte zu 1) abgebogen ist, als er das bereits ausscherende Fahrzeug der klägerischen Zeugin schon hätte erkennen können und müssen. Ein Vertrauen des Beklagten zu 1), er könne gefahrlos nach rechts einbiegen, konnte daher zu diesem entscheidenden Zeitpunkt nicht mehr bestehen. Hinsichtlich der klägerischen Zeugin hat der Sachverständige in seinem Zusatzgutachten vom 06.12.2012 (Bl. 49 d.A.) überzeugend dargelegt, dass diese innerhalb des 3 Sekunden dauernden Einfahrtmanövers des Beklagten zu 1) ihr Fahrzeug allenfalls auf 60 km/h hätte abbremsen, eine Kollision aber nicht mehr vermeiden können. Es gibt deshalb auch insoweit keine Veranlassung, weshalb die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs hier nicht zurücktreten sollte.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist bezüglich der Kostenpauschale ein Betrag von 25,- € angemessen, weswegen die Klage und die Berufung in Höhe von 5,00 € abzuweisen und zurückzuweisen ist (im Übrigen war die Höhe des Anspruchs unstreitig und ist, auch hinsichtlich des Verzugsschadens auf das Ersturteil Bezug zu nehmen). Für eine Anhebung der vor der Währungsumstellung zuletzt angenommenen 50,- DM (Senat NZV 2001, 220) besteht kein Anlass (Senat, Urt. v. 16.07.2004 - 10 U 1953/04; v. 18.03.2005 - 10 U 5448/04; v. 27.01.2006 - 10 U 4904/05 = NZV 2006, 261 [262]; v. 28.07.2006 - 10 U 2237/06 = DAR 2006, 692; v. 24.11.2006 - 10 U 4845/06; v. 13.11.2009 - 10 U 3258/09).

Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten können wie bereits angefallene Sachverständigenkosten oder geschätzte Reparaturkosten im Schadensersatzprozess neben der Hauptsache geltend gemacht werden (BGH VersR 2007, 265; Senat AnwBl. 2006, 768 f.; Urt. v. 29.06.2007 - 10 U 5755/06). Nach § 249 I, II 1 BGB sind diejenigen adäquat verursachten Rechtsverfolgungskosten in Form vorprozessualer Anwaltskosten zu ersetzen, die aus Sicht des Schadensersatzgläubigers zur Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig waren (Senat a.a.O.). Als erforderlich sind die nach dem Urteil begründeten Forderungen anzusehen (BGH MDR 2008, 351 [352]; Senat a.a.O.). Auch bei sog. einfachen Regulierungssachen handelt es sich um eine durchschnittliche Angelegenheit, bei der die Berechnung einer 1,3 Geschäftsgebühr nach Nr. 2400 VV RVG angemessen ist (BGH AnwBl. 2007, 154 ff.; Senat a.a.O.). Dies führt zum ausgeurteilten Betrag.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 II, 97 II, 100 II, IV ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.



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