Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 15.11.1966 - VI ZR 280/64 - Unfall zwischen Radfahrer und Straßenbahn im Kreisverkehr

BGH v. 15.11.1966: Verkehrsunfall zwischen Radfahrer und Straßenbahn im Kreisverkehr


Der BGH (Urteil vom 15.11.1966 - VI ZR 280/64) hat entschieden:
Die Betriebsgefahr der Straßenbahn kann allein dadurch, dass sich die Sichtverhältnisse für andere Verkehrsteilnehmer durch Dunkelheit und Regen verschlechtern, nicht erhöht werden. Eine unfallursächliche Erhöhung der Bahnbetriebsgefahr durch die an einem Verteilerkreis mit Kreisverkehr bestehende besondere Verkehrsregelung kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn der verunglückte Radfahrer diese Regelung aus langjähriger Erfahrung kannte.


Siehe auch Unfälle im Kreisverkehr und Straßenbahn - Tram - Stadtbahn


Tatbestand:

Am .... 1960 gegen 20.38 Uhr ist der Anstreichergeselle Willi P in Du auf dem Wege von der Arbeitsstelle zu seiner Wohnung auf dem Verteilerkreis Ka-​L-Straße – D Straße von einem Straßenbahnzug der Beklagten erfasst und mitgeschleift worden. Er wurde dabei so schwer verletzt, dass er am .... 1960 verstarb. Die Klägerin, bei der P versichert war, zahlt an die Witwe eine Rente und entrichtet für sie Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung. Sie macht mit der Klage die nach § 1542 RVO auf sie übergegangenen Schadensersatzansprüche der Witwe P geltend.

Der Verteilerkreis, an dem Kreisverkehr herrscht, ist übersichtlich und bei Dunkelheit gut beleuchtet. In der Mitte des Kreises befindet sich eine Grünfläche von 30 m Durchmesser, die von zwei Schienensträngen der Straßenbahn in zwei Hälften geteilt wird. An die Fahrbahn, die 8 m breit ist, schließt sich außen ein 1,90 m breiter Fahrradweg an. An den Ausfahrten des Verteilerkreises sind auf der Grünfläche Schilder nach Bild 30 der Anlage zur StVO mit dem Zusatz "Straßenbahn hat Vorfahrt" (§ 13 Abs. 4 Satz 2 StVO) aufgestellt. Die Schilder sind bei Dunkelheit beleuchtet. Kurz vor dem Verteilerkreis ist auf der D Straße auf beiden Seite je eine Straßenbahnhaltestelle.

P war bei Regenwetter und nasser Fahrbahn auf seinem Fahrrad von der Ka-​L-Straße gekommen und in den Kreisverkehr eingebogen. Er fuhr auf dem Radfahrweg, um nach Überquerung der Ausfahrt D Straße in die Ka-​J-Straße zu gelangen. Als er sich in Höhe der ersten Straßenbahnschiene befand, wurde er von dem von links kommenden Straßenbahnzug (Linie D) der Beklagten erfasst und mitgeschleift, bis die Straßenbahn etwa 14 1/2 m weiter zum Stehen kam.

Die Klägerin hat vorgetragen: Der Straßenbahnführer Ro habe nicht genügend auf den Straßenverkehr geachtet und deshalb den Radfahrer zu spät bemerkt. Er habe kein Warnsignal gegeben und zu spät gebremst. Demgegenüber treffe P nur ein geringes Verschulden.

Mit Rücksicht auf dieses eigene Verschulden des P hat die Klägerin nur 3/4 des Unfallschadens geltend gemacht. Sie hat von der Beklagten 4925,50 DM nebst Zinsen sowie für die Zeit vom .... ... 1962 bis 31. März 1963 eine monatlich Rente von 219,55 DM und für die Zeit vom 1. April 1963 bis 30. April 1973 eine Rente von monatlich 195 DM beansprucht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat erwidert: Ro habe erst kurz vor Verlassen der in der Mitte des Verteilerkreises befindlichen Grünfläche erkennen können, dass der Radfahrer trotz der sich nähernden Straßenbahn ohne anzuhalten weiterfahren und das Gleis kreuzen werde. Er habe dann sofort gebremst. Vorher habe er schon etwa in der Mitte der Grünfläche ein Warnsignal gegeben. P, dem die Verkehrsregelung an der Unfallstelle von seinen täglichen Fahrten bekannt gewesen sei, treffe die alleinige Schuld an dem Unfall. Gegenüber seinem groben Verschulden falle die Betriebsgefahr der Straßenbahn nicht ins Gewicht.

Das Landgericht hat die Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 1/3 bejaht und folgendes Urteil erlassen:
"Die Klageansprüche werden dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt mit der Maßgabe, dass die Beklagte die Aufwendungen der Klägerin insoweit zu ersetzen hat, als diese nicht 1/3 des auf sie übergegangenen Unfallschadens des Willi P übersteigen."
Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlussberufung der Klägerin das Urteil des Landgerichts wie folgt neu gefasst:
"Die Klageansprüche sind zu 1/3 des der Witwe P durch den Tod ihres Ehemannes, des Anstreichergesellen Willi P, entstandenen und noch entstehenden Unterhaltsschadens dem Grunde nach gerechtfertigt, soweit die Klägerin an die Witwe P, Rentenleistungen und für sie Beiträge zur Rentnerkrankenversicherung erbracht und noch zu erbringen hat."
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.


Entscheidungsgründe:

I.

Mit Recht hat das Berufungsgericht die Schadensersatzpflicht der Beklagten nach § 1 HpflG bejaht. Auch die Revision bezweifelt nicht, dass P die zu seinem Tode führenden Verletzungen "bei dem Betriebe" der Straßenbahn der Beklagten erlitten hat, insoweit also die Voraussetzungen des § 1 HpflG gegeben sind. Sie meint aber, die Haftung der Beklagten entfalle, weil der Unfall durch höhere Gewalt verursacht worden sei. Das ist indes nicht richtig.

Nach der Begriffsbestimmung, von der der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung ständig ausgeht, ist höhere Gewalt ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen dritter Personen einwirkendes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmen in Kauf zu nehmen ist (BGHZ 7, 332 und Urteil des BGH vom 20. April 1955 – VI ZR 42/54 – VersR 1955, 346). Dass ein Radfahrer infolge grober Unaufmerksamkeit das Vorfahrtrecht der Straßenbahn verletzt, ist kein so ungewöhnliches Ereignis, dass nach menschlicher Einsicht und Erfahrung mit einem derartigen Zwischenfall nicht gerechnet zu werden brauchte. Die Gefahr von Zwischenfällen, mit denen beim Betrieb einer Straßenbahn zu rechnen ist, muss der Unternehmer aber, da er bis zu höherer Gewalt haftet, nach dem Willen des Gesetzes in Kauf nehmen. Selbst wenn der Führer der Straßenbahn sich in jeder Hinsicht verkehrsgerecht verhalten hat und den Unfall nicht verhindern konnte, rechtfertigt das entgegen der Ansicht der Revision noch nicht die Annahme, dass der Unfall auf höherer Gewalt beruhe.

II.

Das eigene Verschulden des Willi P führt, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, nicht dazu, dass die Haftung des Bahnunternehmers ohne Weiteres entfällt. Es bewirkt vielmehr nur, dass das Mitverschulden des Verletzten und die Betriebsgefahr der Straßenbahn nach § 254 BGB gegeneinander abzuwägen sind, also zu prüfen ist, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (BGHZ 2, 355).

III.

Das Berufungsgericht ist bei seiner Abwägung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Beklagte ein Drittel des Schadens zu tragen habe. Es sicht die Hauptursache des Unfalls darin, dass P sich durch seine Fahrweise in die Gefahr eines tödlichen Unfalls gebracht hat und dass ihn ein ganz erhebliches Verschulden trifft, weil er das Herannahen der hell erleuchteten Straßenbahn trotz der von dem Fahrer Ro abgegebenen Warnzeichen nicht bemerkt und ihr Vorrecht nicht beachtet hat.

Auf der anderen Seite geht das Berufungsgericht davon aus, dass Ro sich als Führer der Straßenbahn in jeder Beziehung verkehrsgerecht verhalten, insbesondere rechtzeitig ein Warnzeichen gegeben und sofort gebremst hat, als die Gefahr drohte, mit P zusammenzustoßen. Es will aber eine gewisse Erhöhung der Betriebsgefahr der Straßenbahn daraus herleiten, dass den die Mittelinsel überquerenden Straßenbahnen die Vorfahrt eingeräumt ist. Dazu wird im Berufungsurteil ausgeführt: Die den Kreis befahrenden Verkehrsteilnehmer, denen bei der Einfahrt in den Kreis durch das Verkehrszeichen Bild 27 b kenntlich gemacht sei, dass ihnen im Kreis die Vorfahrt zusteht, verließen sich auf diese Verkehrsregelung und könnten darum öfters ein Verkehrszeichen übersehen, das ihnen schon kurz nach der Einfahrt in den Kreis gegenüber der Straßenbahn ihr Vorrecht wieder nehme. Auch Verkehrsteilnehmern, die mit den Verkehrsverhältnissen vertraut seien, könne dieser Umstand nicht zum Bewusstsein kommen. Daher neige eine Verkehrsregelung, wie sie hier getroffen sei, in gewissem Maße zur Herbeiführung von Unfällen. Hinzu komme noch eine weitere Gefahr für Radfahrer. Da es sich um einen besonders von Kraftwagen stark befahrenen Verteilerkreis handele, müssten Radfahrer, die die Ausfahrten des Kreises überqueren wollen, besonders darauf achten, dass sie nicht von Kraftfahrzeugen, die in die Ausfahrten einschwenken, abgedrängt oder sogar erfasst werden. Handele es sich dabei um die von P überquerte Ausfahrt D Straße, so werde dadurch die Aufmerksamkeit von einer herannahenden Straßenbahn abgelenkt, selbst wenn deren Fahrer das Herannahen der Straßenbahn durch deutliche Klingelzeichen angekündigt habe.

Ferner meint das Berufungsgericht, die Betriebsgefahr der Straßenbahn sei zur Unfallzeit noch wesentlich dadurch erhöht worden, dass es dunkel gewesen sei und geregnet habe Dadurch seien P Aufmerksamkeit und seine Sichtmöglichkeit wesentlich beeinträchtigt worden.

Die Abwägung des Berufungsgerichts ist, wie die Revision mit Recht rügt, von Rechtsfehlern beeinflusst, soweit sie sich mit der Betriebsgefahr der Straßenbahn befasst.

Vor allem geht es nicht an, eine wesentliche Erhöhung der Betriebsgefahr der Straßenbahn daraus herzuleiten, dass P wegen Dunkelheit und Regen in seiner Aufmerksamkeit und in seiner Sichtmöglichkeit beeinträchtigt worden sei. Dass es dunkel war, ist für die Betriebsgefahr der Bahn unerheblich, denn es ist unstreitig, dass nicht nur der gesamte Verteilerkreis gut beleuchtet, sondern auch die Straßenbahn hell erleuchtet und leicht zu erkennen war. Wenn P durch den Regen behindert war, so musste er das bei seiner Fahrweise berücksichtigen. Das bedeutet aber nicht, dass wegen dieser Behinderung P die Betriebsgefahr der Straßenbahn erhöht gewesen wäre.

Dass es zur Zeit des Unfall geregnet hat, könnte der Beklagten allenfalls dann angelastet werden, wenn die Feuchtigkeit der Schienen die Bremsmöglichkeit der Straßenbahn beeinträchtigt hätte und ihre Betriebsgefahr aus diesem Grunde erhöht gewesen wäre. Das ist aber nicht festgestellt. Vor allem ist nichts dafür dargetan, dass sich der Unfall bei trockenen Schienen hätte verhindern lassen. Hat sich der Zustand der Schienen aber nicht ausgewirkt, so kann dieser Gesichtspunkt bei der Abwägung der Unfallursachen keine Rolle spielen.

Der Beurteilung der von der Straßenbahn ausgehenden Betriebsgefahr durch das Berufungsgericht stehen aber auch noch weitere Bedenken entgegen. Dem Berufungsgericht ist zuzugeben, dass die Verkehrsregelung an dem Verteilerkreis gewisse Gefahren mit sich bringt. Sie sind aber für die Abwägung nicht in dem Maße von Bedeutung, wie das Berufungsgericht angenommen hat. Es hat bei seinen Erwägungen nicht genügend beachtet, dass P die örtlichen Verhältnisse genau kannte. Er war damals 62 Jahre alt und hatte, wie die Beklagte unbestritten vorgetragen hat, den Verteilerkreis fast 7 Jahre hindurch auf dem Wege von und zu seiner Arbeitsstelle täglich zweimal befahren. Auch die Klägerin bestreitet nicht, dass P die dort bestehende Verkehrsregelung kannte und sich auch seiner Pflicht, der Straßenbahn die Vorfahrt einzuräumen, bewusst war. Wenn er gleichwohl mit der hell erleuchteten und gut zu erkennenden Straßenbahn zusammengestoßen ist, so ist das keine Folge der an der Unfallstelle bestehenden Verkehrsregelung, sondern in weit überwiegendem Maße auf seine grobe Unaufmerksamkeit zurückzuführen.

Schließlich kann dem Berufungsgericht auch insoweit nicht beigetreten werden, als es der von ihm erwähnten Gefahr für die Radfahrer bei der Beurteilung der von der Straßenbahn ausgehenden Betriebsgefahr Bedeutung beigemessen hat. Dass Radfahrer ihre Aufmerksamkeit auf den Kraftfahrzeug- und auf den Straßenbahnverkehr richten müssen, ist eine Lage, in die sie im Stadtverkehr häufiger geraten. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass deshalb die Betriebsgefahr der Straßenbahn über das gewöhnliche Maß hinaus gesteigert sei.

Hiernach beruht die Verteilung des Schadens, zu der das Berufungsgericht gekommen ist, auf einer fehlerhaften Abwägung. Sie kann daher nicht bestehen bleiben. Der Sachverhalt ist durch die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ausreichend geklärt. Daher ist das Revisionsgericht von sich aus in der Lage, das Maß der beiderseitigen Verursachung und des den Verletzten treffenden Verschuldens gegeneinander abzuwägen. Berücksichtigt man das grobe eigene Verschulden P und die Betriebsgefahr der Straßenbahn, wie sie sich hier ausgewirkt hat, so erscheint es angemessen, dass die Beklagte nur für 1/5 des Schadens aufzukommen hat. Daher war das Urteil des Landgerichts auf die Rechtsmittel der Beklagten entsprechend zu ändern.

Die Verteilung der Kosten ergibt sich aus den §§ 97, 91, 92 ZPO.