Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Kammergericht Berlin Urteil vom 13.10.2008 - 12 U 61/07 - Haftungsverteilung bei Kollision eines mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Entgegenkommenden mit einem Linksabbieger

KG Berlin v. 13.10.2008: Zur Haftungsverteilung bei Kollision eines mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Entgegenkommenden mit einem Linksabbieger




Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 13.10.2008 - 12 U 61/07) hat entschieden:

  1.  Der Entgegenkommende verliert sein Vorrecht gegenüber einem Linksabbieger nicht dadurch, dass er mit einer überhöhten Geschwindigkeit (hier: mindestens 70 km/h innerorts) in die Kreuzung einfährt.

  2.  Das Vorrecht des Entgegenkommenden wird durch seine Geschwindigkeitsüberschreitung relativiert, so dass bei der Abwägung der Schadensverursachungsbeiträge in einem solchen Fall eine Schadensteilung 50:50 angemessen sein kann.

  3.  Ein Mitfahrer braucht sich ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführers im Verhältnis zum Unfallgegner (Kraftfahrer) grundsätzlich nicht anspruchsmindernd anrechnen zu lassen, weil es dafür keine Zurechnungsnorm gibt.



Siehe auch
Linksabbiegen
und
Fahrgeschwindigkeit und zivilrechtliche Haftung


Gründe:


I.

Die Berufung der Kläger richtet sich gegen das am 19. Februar 2007 verkündete Urteil des Landgerichts, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird.

Zur Begründung ihrer Berufung tragen die Kläger vor, das Landgericht gehe zu Unrecht von einer alleinigen Haftung des Klägers zu 1) aus. Es verkenne, dass der Führer des LKW, für welchen der Beklagte einzustehen habe, die originäre Unfallursache durch eine grobe Vorfahrtsverletzung gesetzt habe.

Die Kläger und die Streithelferin beantragen,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen,

1. an den Kläger zu 1.

a. € 23.620,90 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 10. Juli 2004 zu zahlen,

b. ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches € 5.000,00 nicht unterschreiten sollte.

2. an die Klägerin zu 2.

a. € 171.993,12 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten ab Rechtshängigkeit zu zahlen,

b. ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches aber € 40.000,00 nicht unterschreiten sollte,

c. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, den der Klägerin zu 2. aus ihrer durch den Unfall vom 09. Juli 2004 bedingten Arbeitsunfähigkeit entstehenden weitergehenden materiellen Schaden zu ersetzen.

3. an den Kläger zu 3.

a. ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches aber € 2.000,00 nicht unterschreiten sollte.

b. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, den dem Kläger zu 3. aus seiner durch den Unfall vom 09. Juli 2004 bedingten Arbeitsunfähigkeit entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen,

4. an den Kläger zu 4.

a. ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches aber € 5.000,00 nicht unterschreiten sollte,

b. festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, den dem Kläger zu 4. aus seiner durch den Unfall vom 09. Juli 2004 bedingten Arbeitsunfähigkeit entstehenden materiellen Schaden zu ersetzen.


hilfsweise beantragen sie,

den Rechtsstreit hinsichtlich der Höhe gemäß § 538 Absatz 2 Nr. 4 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise schließt sie sich dem Antrag auf Zurückverweisung an.

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung, die er für zutreffend erachtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens in beiden Rechtszügen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen verwiesen.





II.

A.

Die Berufung ist zulässig und hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 538 Absatz 2 Nr. 4 ZPO liegen vor, da die Sache hinsichtlich der Höhe der Ansprüche nicht entscheidungsreif ist, eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich ist und den Parteien auch hinsichtlich der Schadenshöhe keine Instanz genommen werden soll.

B.

Zu den Ansprüchen im Einzelnen:

1. Kläger zu 1).

Den Ausführungen des Landgerichts auf den Seiten 12 ff der angefochtenen Entscheidung zur Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gemäß § 17 Absatz 1 StVO vermag der Senat sich nicht anzuschließen. Der Senat hält vielmehr eine hälftige Teilung des Schadens des Klägers für richtig.

a) Der Fahrer des LKW, der Zeuge ... , hat gegen die sich für ihn als Linksabbieger aus § 9 Absatz 3 Satz 1 StVO ergebenden Pflichten verstoßen. Dieser Verstoß wiegt umso schwerer, als es dem Zeugen möglich gewesen wäre, mit dem Abbiegen so lange zu warten, bis der für ihn maßgebliche Grünpfeil (§ 37 Absatz 2 Nr. 1 Satz 4 StVO) Licht abstrahlt. Dieser grüne Pfeil hätte ihm nämlich angezeigt, dass der Gegenverkehr durch Rotlicht angehalten ist und dass Linksabbieger die Kreuzung in Richtung des grünen Pfeils ungehindert befahren und räumen können.




b) Dem Kläger zu 1) ist demgegenüber vorzuwerfen, dass er, obwohl er den abbiegenden LKW rechtzeitig wahrnehmen konnte, seine Geschwindigkeit nicht verringert hat. Ihm ist weiterhin vorzuwerfen dass er die vorgeschriebene Geschwindigkeit von 50 km/h um 20 bis 30 km/h überschritten hat. Der Senat folgt insoweit den Feststellungen des Landgerichts. Hinsichtlich des nicht eingeleiteten Bremsvorgangs ergibt sich diese Feststellung sowohl aus den Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen als auch aus den schriftlichen Erklärungen der Kläger zu 2) bis 4) (Blätter 28 ff den beigezogenen Akten der Amtsanwaltschaft Berlin (147 PLs 3357/04 Ve), in denen nur von einem versuchten Ausweichen die Rede ist, nicht aber von einem Bremsvorgang.

Die Geschwindigkeitsüberschreitung ergibt sich nicht nur aus den Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen sondern auch aus den Darlegungen des von der Beklagten beauftragten Sachverständigen ... . Dieser führt auf Seite 16 seines Gutachtens aus, dass die Annäherungsgeschwindigkeit aufgrund des Schadensbildes zwischen 70 und 80 km/h gelegen haben muss.

c) Der Entgegenkommende verliert sein Vorrecht gegenüber einem Linksabbieger nicht dadurch, dass er mit einer überhöhten Geschwindigkeit in die Kreuzung einfährt (BGH, Urteil vom 25. März 2003 – VI ZR 161/02 – VersR 2003, 783 = NJW 2003, 1929).

Das Vorrecht des Entgegenkommenden wird durch seine Geschwindigkeitsüberschreitung aber relativiert, so dass bei der Abwägung der Schadensverursachungsbeiträge sein Verschulden zu berücksichtigen ist.

In seiner Entscheidung vom 4. September 2000 (-​12 U 4373/99 - ; VM 2001, 19 Nr. 23 = DAR 2001, 300 = VRS 100, 279 = KGR 2001, 42) hat der Senat entschieden, dass im Falle einer ganz erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung (Innerorts mindestens 100 km/h) bei der Abwägung der Schadensverursachungsbeiträge das Verschulden des Entgegenkommenden doppelt so schwer wiegt, also mit 2/3 zu bewerten ist.

Bei einer dem Kläger zu 1) nachgewiesenen Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens 20 km/h hält der Senat deshalb eine Schadensteilung für angemessen. Dies entspricht der Haftungsverteilung in Fällen, in denen der Geradeausfahrer gegen Ende der Gelbphase (vgl. Senat, VM 1984, 36; OLG Düsseldorf, r+s 1976, 205; OLG Köln, VersR 1965, 625) bzw. bei frühem Rot (OLG Hamm, VersR 1990, 99 = NZV 1989, 191; OLG Oldenburg DAR 1964, 20 = MDR 1963, 843) in den Kreuzungsbereich einfährt und dort mit einem Linksabbieger zusammenstößt.


2. Kläger zu 2) bis 4)

Der Senat vermag nicht nachzuvollziehen, warum das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung das Verschulden des Klägers zu 1) zu Lasten der Kläger zu 2) bis 4) berücksichtigt hat.

a) Um den Mitfahrern – Kläger zu 2) bis 4) - ein Fehlverhalten des Fahrers – Kläger zu 1) - zurechnen zu können, bedarf es einer Rechtsgrundlage.

Derartiges ist jedoch nicht erkennbar; denn der Kläger zu 1) war weder Erfüllungsgehilfe noch gesetzlicher Vertreter der Kläger zu 2) bis 4), so dass schon deshalb eine Zurechnung nach §§ 254 Abs. 2 Satz 2, 278 BGB ausscheidet, Ebenso wenig war der Kläger zu 1) ein weisungsgebundener „Verrichtungsgehilfe“ im Sinne des § 831 BGB (vgl. zur Zurechnung des Verhaltens Dritter zu Lasten des Geschädigten etwa Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl. 2008, § 254 Rn 49, 50; Senat, Urteil vom 31. Oktober 1994 – 12 U 4031/93 – DAR 1993, 72 = NZV 1995, 109 = VRS 88, 241).

b) Dagegen haftet der Beklagte für die Schäden der Kläger zu 2) bis 4) bereits unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr zu 100%. Wie das Landgericht auf Seite 11 der angefochtenen Entscheidung zutreffend ausgeführt hat, stellt sich der Unfall für den Fahrer des LKW nicht als höhere Gewalt im Sinne von § 7 Absatz 2 StVG bzw. als unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG dar. Der Fahrer des LKW kann für sich nicht in Anspruch nehmen, er habe das Ereignis selbst durch äußerste mögliche Sorgfalt nicht abwenden können. Ein Idealfahrer hätte nämlich mit dem Abbiegevorgang bis zum Aufleuchten des Grünpfeils gewartet.

c) Ob die Streithelferin den Klägern zu 2) bis 4) zusammen mit dem Beklagten als Gesamtschuldner haftet, kann vorliegend dahinstehen.

d) Die Feststellungsklagen der Kläger zu 2) bis 4) sind zulässig und begründet.

Eine Klage auf Feststellung der deliktischen Verpflichtung eines Schädigers zum Ersatz künftiger Schäden ist zulässig , wenn die Möglichkeit eines Schadenseintritts besteht. Ein Feststellungsinteresse ist nur zu verneinen, wenn aus der Sicht des Geschädigten bei verständiger Würdigung kein Grund besteht, mit dem Eintritt eines Schadens wenigstens zu rechnen.



Eine Feststellungsklage ist begründet , wenn die sachlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Schadensersatzanspruchs vorliegen, also insbesondere ein haftungsrechtlich relevanter Eingriff gegeben ist, der zu den für die Zukunft befürchteten Schäden führen kann.

C.

Die Revision war nicht zuzulassen, da weder die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, noch eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 543 Absatz 1 Nr.1, Absatz 2 ZPO n. F.).

D.

Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen. Die weiteren prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

- nach oben -



Datenschutz    Impressum