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OLG Hamm Beschluss vom 02.01.2018 - I-7 U 44/17 - Betriebsgefahr und Radfahrerverschulden

OLG Hamm v. 02.01.2018: Betriebsgefahr eines Pkw und Radfahrerverschulden




Das OLG Hamm (Beschluss vom 02.01.2018 - I-7 U 44/17) hat entschieden:

   Bei der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge tritt die einfache Betriebsgefahr eines PKW hinter einem für den Unfall ursächlichen Vorfahrtsverstoß des verunfallten Fahrradfahrers vollständig zurück.

Siehe auch
Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung
und
Radfahrer-Unfälle - Verkehrsunfall mit Fahrradbeteiligung




Gründe:


I.

Zwischen den Parteien steht ein Unfallereignis vom 18.04.2015 in Streit, das sich gegen 19:25 Uhr im T-​Kreuzungsbereich auf der L-​Straße in E ereignete.

An dem Unfall waren das im Eigentum des Klägers stehende Fahrzeug, VW Golf, amtliches Kennzeichen ..., welches bei der Drittwiderbeklagten zu 2) haftpflichtversichert war und welches im Unfallzeitpunkt von der Drittwiderbeklagten zu 1) gesteuert wurde, sowie die Beklagte mit ihrem Fahrrad beteiligt. Der Unfall ereignete sich im Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang der Beklagten, als diese nach links in die L-​Straße abbog. Die Beklagte wurde hierbei von dem aus ihrer Sicht von rechts kommenden Fahrzeug des Klägers erfasst.

Bei der L-​Straße handelt es sich um einen verzweigten Wirtschaftsweg, der zwischen Feldern verläuft. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 100 km/h. Die Fahrbahnbreite der L-​Straße liegt zwischen 1,98 m und 2,42 m.

Die Sichtverhältnisse zwischen den Unfallbeteiligten waren im T-​Kreuzungsbereich aufgrund von Sträuchern und Bäumen eingeschränkt. Im Kreuzungsbereich gilt mangels abweichender Beschilderung die allgemeine Vorfahrtsregel rechts-​vor-​links.

Durch das Unfallereignis wurde die Beklagte erheblich verletzt. An dem Fahrzeug des Klägers entstand ein Sachschaden.




Der Kläger und die Beklagte haben wechselseitig Ansprüche aus dem Unfallereignis vom 18.04.2015 geltend gemacht.

Hinsichtlich des weiteren Sachverhaltes einschließlich der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gem. § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Das Landgericht hat der Klage nach Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens bis auf einen geringen Teil der vorgerichtlichen Anwaltskosten stattgegeben und die (Dritt-​)Widerklage der Beklagten vollumfänglich mit der Begründung abgewiesen, dass die Beklagte den Unfall verschuldet habe, indem sie die Vorfahrt des klägerischen Fahrzeugs missachtet habe.

Ohne Bedeutung sei, ob der Unfall für die Drittwiderbeklagte unabwendbar gewesen sei, da § 17 Abs. 3 StVG nur bei der Beteiligung mehrerer Kraftfahrzeuge an einem Unfall Anwendung finde. Die einfache Betriebsgefahr trete jedoch hinter dem gravierenden Verschulden der Beklagten, welches in dem Vorfahrtsverstoß liege, zurück. Eigene Verkehrsverstöße der Drittwiderbeklagten zu 1) seien nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festzustellen gewesen.

Die unfallanalytische Begutachtung habe ergeben, dass sich die Kollision in zeitlich engem Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang der Beklagten ereignet habe.

Gegen die Abweisung der (Dritt-​)Widerklage wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung und führt unter Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags zur Begründung aus, dass ihr zwar ein schuldhafter Verstoß gegen § 8 StVO anzulasten sei, dieser jedoch nicht als gravierendes Verschulden oder grobes Alleinverschulden einzustufen sei. Das Landgericht habe es fehlerhaft unterlassen, die Unfallbeteiligten zum Unfallhergang anzuhören. Zwar habe sie selbst verletzungsbedingt keine Erinnerung mehr an das Unfallgeschehen. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass sie vor dem Einfahren in die T-​Kreuzung zunächst angehalten und sich vergewissert habe, dass kein Fahrzeug von rechts komme. Sofern sie die Drittwiderbeklagte zu 1) hierbei übersehen habe, handele es sich um eine schlichte Unachtsamkeit, hinter der die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs nicht zurücktrete.




Das Landgericht habe sich bei seinem Urteil allein auf die Ausführungen des Sachverständigen gestützt. Dieser habe für sein Gutachten jedoch lediglich eine zu erwartende Geschwindigkeit des Fahrrades von 10 bis 15 km/h zugrunde gelegt. Die Möglichkeit, dass sie zunächst angehalten und sodann wieder losgefahren sei, habe der Sachverständige nicht in seinem Gutachten berücksichtigt.

Darüber hinaus sei der Drittwiderbeklagten zu 1) entgegen den Ausführungen des Landgerichts ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß vorzuwerfen, indem sie bei den im Unfallzeitpunkt herrschenden Sichtverhältnissen aufgrund der tiefstehenden Sonne und des Pflanzenbewuchses sowie der Fahrbahnbreite der L-​Straße unangemessen schnell gefahren sei. Das Landgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) gegenüber den das Unfallgeschehen aufnehmenden Polizeibeamten selbst angegeben habe, wegen der tiefstehenden Sonne kaum etwas gesehen zu haben.

Aber auch ohne einen Verkehrsverstoß der Drittwiderbeklagten zu 1) sei es fehlerhaft, die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs vollständig hinter den Vorfahrtsverstoß zurücktreten zu lassen. Bei einem Verkehrsunfall zwischen einem Kraftfahrzeug und einem Fahrrad könne die einfache Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs nämlich nur in besonderen Einzelfällen bei gravierendem Mitverschulden zurücktreten. Dies sei vorliegend aufgrund der bestehenden Umstände nicht der Fall.

II.

Die allein gegen die Abweisung der Widerklage gerichtete Berufung der Beklagten ist zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass die Beklagte ihre erstinstanzliche Verurteilung nach einer Haftungsquote von 100 % zu ihren Lasten nicht mit der Berufung angreift. Denn die Haftungsverteilung (als nicht präjudizielle Vorfrage beider Streitgegenstände zur Klage und Widerklage) nimmt nicht an der materiellen Rechtskraft des Urteils zur Klageforderung nach § 322 Abs. 1 ZPO teil (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 12.03.2015, Az. 19 U 153/14, BeckRS 2016, 01998; Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Auflage, Vor § 322 Rn. 28).




III.

Nach § 513 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht oder die nach § 529 ZPO zugrundezulegenden Tatsachen eine andere - der Beklagten günstigere - Entscheidung rechtfertigen. Solches zeigt die Berufungsbegründung nicht auf. Die Feststellungen und Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil sind vielmehr in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Ergebnis richtig.

Im Einzelnen:

1. Ein Verstoß des erstinstanzlichen Gerichts im Hinblick auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs der Beklagten ist nicht ersichtlich.

Das Gutachten des Sachverständigen Dipl.-​Ing. O ist den Parteien mit Verfügung vom 12.12.2016 unter Hinweis auf §§ 411 Abs. 4, 296 Abs. 1, 4 ZPO mit der Gelegenheit zur Stellungnahme binnen vier Wochen übersandt worden.

Einwendungen der Parteien gegen das Gutachten sind nicht erhoben worden, weshalb eine Ergänzung und Erläuterung des Gutachtens nicht veranlasst war. Im Termin am 11.05.2017 haben die Parteien nach Vorlage des schriftlichen Gutachtens zur Sache verhandelt.

Das Landgericht hat es auch nicht verfahrensfehlerhaft unterlassen, die Parteien zum Unfallgeschehen anzuhören und den Zeugen Q zu vernehmen.

Gem. § 141 Abs. 1 ZPO soll das Gericht das persönliche Erscheinen beider Parteien anordnen, um sie zur Aufklärung des Sachverhalts anzuhören.

Ob das Gericht das persönliche Erscheinen der Parteien zwecks Aufklärung des Sachverhalts anordnet, steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts (vgl. Greger in Zöller, ZPO, 31. Auflage, § 141, Rn. 3). Ein Ermessensfehler des Landgerichts im Rahmen der Entscheidung, von der Anordnung des persönlichen Erscheinens und der Anhörung der Parteien abzusehen, ist nicht gegeben.

Die Beklagte hat nach eigenen Angaben unfallbedingt keine Erinnerungen mehr an das Unfallgeschehen. Selbst wenn das Landgericht sie zum Unfallhergang angehört hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts beizutragen. Aufgrund ihrer Verpflichtung aus § 138 Abs. 1 ZPO wahrheitsgemäß vorzutragen, hätte sie lediglich ausführen können, dass ihr das Fahrverhalten der Drittwiderbeklagten zu 1) sowie ihr eigenes Fahrverhalten mangels Erinnerung nicht bekannt sind (vgl. OLG Hamm, NJW-​RR 2017, 281).

Für die Anhörung der Drittwiderbeklagten zu 1) bestand ebenfalls keine Veranlassung. Die Klägerseite hat schriftsätzlich gem. § 138 ZPO den Ablauf des Unfallgeschehens aus ihrer Sicht vorgetragen. Dieser Ablauf ist durch das unfallanalytische Gutachten des Sachverständigen Dipl.-​Ing. O bestätigt worden. Auch eine Vernehmung des nur klägerseits benannten Zeugen Q war nicht mehr veranlasst, nachdem der klägerische Vortrag zum Unfallgeschehen seitens des Sachverständigen bestätigt worden war. Ein Beweisantrag der Beklagten auf Vernehmung des Zeugen Q oder auf Parteivernehmung der Drittwiderbeklagten zu 1) ist nicht gestellt und damit auch nicht vom Landgericht übergangen worden. Ein Amtsermittlungsgrundsatz besteht im Zivilprozess nicht.

2. Die Beklagte hat aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls keine Ansprüche gem. §§ 7 Abs. 1, 11 StVG gegen den Kläger und gem. §§ 7, Abs. 1, 11, 18 Abs. 1, §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG gegen die Drittwiderbeklagten zu 1) und 2) auf Zahlung von Schmerzensgeld und Schadensersatz sowie auf Feststellung einer Einstandspflicht für weitere auf dem Unfallereignis beruhender Schäden.

a) Zwar ereignete sich der Unfall unzweifelhaft gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG beim Betrieb des Pkw des Klägers.

b) Die Ersatzpflicht des Klägers und der Drittwiderbeklagten ist auch nicht gem. § 7 Abs. 2 StVG durch höhere Gewalt ausgeschlossen.

c) Ebenfalls greift hier kein Anspruchsausschluss nach § 17 Abs. 3 StVG wegen Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses ein. Gegenüber einem Geschädigten, der selbst nicht als Kfz-​Halter für die Betriebsgefahr eines unfallbeteiligten Kfz einzustehen hat, ist § 17 StVG nämlich nicht anwendbar (vgl. Heß in Burmann /Heß /Hühnermann /Jahnke /Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Auflage 2016, § 17 StVG, Rn. 7).

d) Indes trifft die Beklagte, wie vom Landgericht zutreffend ausgeführt, ein derart erhebliches Eigenverschulden an dem Zustandekommen des Unfalls, dass eine Haftung des Klägers und der Drittwiderbeklagten nach § 9 StVG i.V.m. § 254 Abs. 1 BGB ausgeschlossen ist. Gemäß § 9 StVG findet die Vorschrift des § 254 BGB Anwendung, wenn bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Verletzten mitgewirkt hat. Hierbei folgt die Haftungsabwägung den zu § 17 Abs. 1 StVG entwickelten Rechtsgrundsätzen (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 04.07.2013, Az. 4 U 65/12, unter Rn. 31, zitiert bei Juris).

Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge können nur solche Umstände zu Lasten eines Beteiligten berücksichtigt werden, die unstreitig oder bewiesen sind und die sich ursächlich auf die Entstehung des Schadens ausgewirkt haben (vgl. Grüneberg in Palandt, BGB, 76. Auflage, § 254, Rn. 62 m.w.N.). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Hierbei kann die Abwägung zum vollständigen Ausschluss des Ersatzanspruchs führen, wenn das Verschulden des Geschädigten derart überwiegt, dass die vom Schädiger ausgehende Ursache völlig zurücktritt (vgl. OLG Hamm, NJW-​RR 2016, 1043 unter Rn. 15).

aa) Auf Klägerseite ist hier kein schuldhafter Verkehrsverstoß der Drittwiderbeklagten zu 1) als Fahrerin des unfallbeteiligten Pkw bewiesen.
(1) Es ist nicht festzustellen, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) gem. § 3 Abs. 1 S. 1, 2, 4 und 5, Abs. 3 Nr. 2 c) StVO mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist.

Auf der außerhalb geschlossener Ortschaften befindlichen L-​Straße galt für das von ihr geführte Fahrzeug mangels Geschwindigkeitsbeschränkung gem. § 3 Abs. 3 Nr. 2 c) StVO eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h.

Nach den Feststellungen des Landgerichts, an die der Senat gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden ist, da keine konkreten Anhaltspunkte für Zweifel an deren Vollständigkeit und Richtigkeit vorliegen, ist von einer Bremsausgangsgeschwindigkeit des klägerischen PKW zwischen 60 und 70 km/h und damit von einer deutlich unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit liegenden Geschwindigkeit auszugehen.


Nach der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme ist ferner nicht bewiesen, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) aufgrund der Gesamtumstände im Unfallzeitpunkt gem. § 3 Abs. 1 S. 1, 2, 4 und 5 StVO verpflichtet war, die Geschwindigkeit weiter zu reduzieren.

Wie das Landgericht - gestützt auf das unfallanalytische Gutachten - beanstandungsfrei ausgeführt hat, sind die Lichtverhältnisse aufgrund der tiefstehenden Sonne nicht mehr rekonstruierbar. Ob die bei der Bremsausgangsgeschwindigkeit zu fordernde Sichtweite von mindestens 36 Metern aufgrund der Lichtverhältnisse nicht gegeben war, ist demnach nicht feststellbar.

Die Drittwiderbeklagte zu 1) war auch nicht aufgrund des Pflanzenbewuchses im Bereich der T-​Kreuzung gehalten, ihre Geschwindigkeit auf unter 60 km/h zu reduzieren.

Der Berechtigte darf in der Regel auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts vertrauen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage, § 8 StVO, Rn. 50). Der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer kann sich grundsätzlich darauf verlassen, dass auch ein für ihn nicht sichtbarer Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten werde. Diese Regel gilt nicht nur, wenn der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer auf einer bevorrechtigten Straße fährt, sondern auch dann, wenn ihm das Vorfahrtsrecht deshalb zusteht, weil er von rechts kommt (BGH, NJW 1985, 2757).

Die Drittwiderbeklagte zu 1) war auch nicht allein aufgrund der von links einmündenden Straße verpflichtet, ihre Geschwindigkeit zu verringern. Da es sich um eine T-​Kreuzung gehandelt hat und aus Sicht der Drittwiderbeklagten zu 1) von rechts keine bevorrechtigte Straße auf die L-​Straße führte, ist die Situation einer sogenannten "halben Vorfahrt" nicht gegeben. Der Vorfahrtsberechtigte muss seine Geschwindigkeit nicht so einrichten, dass er vor Einmündungen von Straßen, die wegen ihrer Bebauung oder aus sonstigen Gründen nicht einsehbar sind, im Fall der Verletzung der Vorfahrt anhalten kann. Das gleiche gilt auf gleichrangigen Straßen an Kreuzungen, die nach rechts eingesehen werden können, aber nach links verdeckt sind (vgl. Heß in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Auflage, § 8, Rn. 35 m.w.N.).




Eine weitere Geschwindigkeitsverringerung war auch nicht aufgrund der Breite der Fahrbahn zu verlangen. Wie sich aus den Lichtbildern ergibt, verlief die L-​Straße aus Sicht der Drittwiderbeklagten zu 1) kurvenlos geradeaus. Das Gebot des Fahrens auf halbe Sicht gem. § 3 Abs. 1 S. 5 StVO bei schmalen Fahrbahnen dient dem Schutz des Gegenverkehrs (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage, § 3 StVO, Rn. 16). Die Beklagte befand sich hingegen nicht im Gegenverkehr, sondern ist mit ihrem Fahrrad in zeitlich engem Zusammenhang mit der Kollision von links kommend auf die L-​Straße eingebogen. Mit nachträglich von der Seite auftauchenden Hindernissen braucht der Fahrzeugführer hingegen in der Regel nicht zu rechnen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage, § 3 StVO, Rn. 14).

(2) Schließlich ist auch kein unfallursächlicher Verstoß der Drittwiderbeklagten zu 1) gegen das Rücksichtnahmegebot gem. § 1 Abs. 2 StVO nachzuweisen. Eine solcher Verstoß wäre nur dann anzunehmen, wenn sie infolge Unaufmerksamkeit nicht rechtzeitig auf die Beklagte reagiert hätte und durch rechtzeitiges Abbremsen bzw. Ausweichen den Unfall hätte vermeiden oder seine Folgen hätte verringern können.

Die Beweisaufnahme, an die der Senat auch insoweit gem. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO gebunden ist, hat insoweit ergeben, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) spontan auf die nach links mit ihrem Fahrrad einbiegende Beklagte reagierte, wobei die ihr zur Verfügung stehende Abwehrzeit von ca. 1,2 Sekunden nahezu vollständig von der zuzubilligenden Reaktionszeit von ca. 1 Sekunde aufgebraucht wurde.

Sofern die Beklagte hiergegen einwendet, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) gegenüber den unfallaufnehmenden Polizisten selbst eingeräumt habe, aufgrund der tiefstehenden Sonne kaum etwas gesehen zu haben, kann hierdurch ein Reaktionsverschulden nicht zu Lasten der Drittwiderbeklagten zu 1) festgestellt werden. Denn das unfallanalytische Gutachten hat ergeben, dass die Drittwiderbeklagte zu 1) nicht ungebremst mit der Beklagten kollidiert ist, sondern sie trotz der bestehenden Sichtverhältnisse unmittelbar mit einer spontanen Reaktion auf die Vorfahrtsverletzung der Beklagten reagiert hat.

bb) Soweit die Beklagte nunmehr erstmals in der Berufungsinstanz geltend macht, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie vor dem Einfahren in den T-​Kreuzungsbereich zunächst angehalten habe und sie deshalb entgegen der dem Gutachten zugrunde gelegten Anknüpfungstatsachen länger für die Drittwiderbeklagte zu sehen gewesen sei, handelt es sich um eine reine Spekulation der Beklagten, die nicht zu Lasten der Klägerseite bewiesen ist.

Aber auch unter Berücksichtigung dieses neuen Vortrags der Beklagten in der Berufungsinstanz ergibt sich keine abweichende rechtliche Beurteilung.



Unabhängig davon, dass es lebensfremd erscheint, dass ein Radfahrer, der gerade in der Absicht anhält, um sich zu vergewissern, ob ein bevorrechtigtes Fahrzeug herannaht, dieses sichtbar herannahende Fahrzeug dann tatsächlich übersieht, änderte dies nämlich nichts an dem schuldhaften Vorfahrtsverstoß der Beklagten im Sinne des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO.

Die Beachtung der Vorfahrt ("rechts vor links" gemäß § 8 Abs. 1 S. 1 StVO) gehört zu den Grundregeln des Straßenverkehrs. Eine Vorfahrtsverletzung ist demnach generell als schwerwiegender Verkehrsverstoß zu bewerten (vgl. OLG Karlsruhe, NZV 2012, 229)

Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, hat sich die Kollision unmittelbar in zeitlich und örtlich engem Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang der Beklagten ereignet. Das Ergebnis der unfallanalytischen Begutachtung hat insoweit ergeben, dass zwischen den Längsachsen der Fahrzeuge bei deren Erstkontakt ein erheblicher Kollisionswinkel zwischen 25 ... und 35 ... bestand. Hieraus hat das Landgericht beanstandungsfrei geschlossen, dass sich die Beklagte im Zeitpunkt der Kollision noch im Abbiegevorgang befunden hat.




--erhandlung verspricht sich der Senat angesichts dessen, dass die Beweismittel erschöpft sind, keine neuen Erkenntnisse, so dass eine mündliche Verhandlung nach einstimmigem Votum nicht geboten ist.

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