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BGH Beschluss vom 25.09.1957 - 4 StR 367/57 - Zur Annahme von Erfolgskausalität

BGH v. 25.09.1957: Zur Annahme von Erfolgskausalität




Der BGH (Beschluss vom 25.09.1957 - 4 StR 367/57) hat entschieden:

   Als ursächlich für einen schädlichen Erfolg darf ein verkehrswidriges Verhalten nur dann angenommen werden, wenn sicher ist, dass es bei verkehrsgerechtem Verhalten nicht zu dem Erfolg gekommen wäre. Allerdings steht der Bejahung der Ursächlichkeit die bloße gedankliche Möglichkeit eines gleichen Erfolgs nicht entgegen; vielmehr muss sich eine solche Möglichkeit auf Grund bestimmter Tatsachen, die im Urteil mitzuteilen und zu würdigen sind, so verdichten, dass sie die Überzeugung von der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit des Gegenteils vernünftigerweise ausschließt.

Siehe auch
Kausalzusammenhang - Ursachenzusammenhang
und
Fahrlässige Tötung im Straßenverkehr

Gründe:


I.

Der Angeklagte lenkte einen Lastzug auf einer geraden und übersichtlichen Straße, deren Fahrbahn etwa 6 m breit war. Auf dem rechten Seitenstreifen fuhr, ein Radler in der gleichen Richtung. Der Angeklagte überholte ihn mit einer Geschwindigkeit von 26 bis 27 km/h. Der Seitenabstand vom Kastenaufbau des Anhängers zum linken Ellbogen des Radfahrers betrug dabei 75 cm. Während des Überholvorganges geriet der Radfahrer mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 o/oo, auch für den Zeitpunkt des Unfalls.

Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung. Auf seine Berufung hat die Strafkammer das Urteil aufgehoben und gegen ihn lediglich deshalb, weil er mit zu geringem seitlichen Abstand den Radler überholt habe (§§ 1, 49 StVO), eine Geldstrafe verhängt. Den Nachweis, dass er durch Fahrlässigkeit dessen Tod verursacht habe, hält sie nicht für erbracht, weil sich nach ihrer Überzeugung der tödliche Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Angeklagten ereignet haben würde. Die Umstände, aus denen die Strafkammer ihre Überzeugung herleitet, hat sie im einzelnen dargelegt: unbedingte Fahruntüchtigkeit des Radfahrers infolge hohen Blutalkoholgehaltes, eine dadurch bewirkte starke Minderung seiner Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, die in Übereinstimmung mit einem Sachverständigen bejahte Wahrscheinlichkeit, dass der Radfahrer das Fahrgeräusch des Lastzuges zunächst nicht wahrnahm, dann plötzlich, als er seiner inne wurde, heftig erschrak, besonders stark reagierte und dabei völlig ungeordnet und unvernünftig sein Fahrrad nach links zog, eine Verhaltensweise, wie sie für stark angetrunkene Radfahrer typisch sei.





II.

Die gegen diese Entscheidung eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft rügt die vermeintlich fehlerhafte Nichtanwendung des § 222 StGB. Das Oberlandesgericht in Hamm hält die Rechtsauffassung des Landgerichts für bedenklich und möchte dem Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft stattgeben. Es beruft sich für seine Auffassung auf mehrere höchstrichterliche Entscheidungen (RGSt 63, 211; BGH in VRS 3, 423; 4, 32 sowie BayObLG in VRS 4, 431), in denen nach seiner Meinung der ursächliche Zusammenhang zwischen einem verkehrswidrigen Verhalten und einem schädlichen Erfolg immer dann bejaht werde, wenn nicht mit Sicherheit oder mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass dieser Erfolg auch ohne jene Verkehrswidrigkeit eingetreten wäre; nur wenn nach menschlichem Ermessen sicher sei, dass es auch bei verkehrsgemäßem Verhalten des Angeklagten zu einem gleichen Erfolg gekommen wäre, sei es gerechtfertigt, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Täters für den von ihm herbeigeführten Erfolg zu verneinen. Die reine Möglichkeit oder auch die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit, dass auch ohne das vorwerfbare Verhalten der gleiche Erfolg eingetreten wäre, könne eine Verurteilung des Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung nicht hindern.

Im Gegensatz dazu ist in einer Reihe von Entscheidungen ausgesprochen, dass die Ursächlichkeit des schuldhaften Verhaltens für einen schädlichen Erfolg nur dann bejaht werden dürfe, wenn eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit dafür bestehe, dass der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten ausgeblieben wäre (RGSt 75, 49 und 324; JW 1928, 2716 Nr. 16; BGHSt 7, 211; BGH NJW 1954, 1047; 1955, 1487; VRS 10, 282 und 359, 363).

Das Oberlandesgericht in Hamm hat die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt. Die Vorlegung ist zulässig, da die Entscheidung über die Revision von der streitigen Rechtsfrage abhängt. In sachlicher Hinsicht vermag der Senat jedoch der Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm nicht beizutreten.

III.

Nach § 222 StGB wird bestraft, wer den Tod eines Menschen durch Fahrlässigkeit verursacht. Ein Erfolg ist nur dann schuldhaft verursacht, wenn er gerade durch dasjenige Tun oder Unterlassen herbeigeführt wird, das einen Vorwurf gegen den Täter begründet (BGH in VRS 5, 284). Ob dies der Fall ist, entscheidet der Tatrichter nach seiner freien Überzeugung (§ 261 StPO).


Dem Angeklagten muss nach dem im Strafprozess allgemein herrschenden Grundsatz, dass nur ein bewiesenermaßen Schuldiger verurteilt werden darf, das Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale und damit auch die Ursächlichkeit seines schuldhaften Verhaltens für den eingetretenen Erfolg nachgewiesen werden. Die Kernfrage dabei ist, welche Erfordernisse an den Nachweis des ursächlichen Zusammenhanges zu stellen sind. Ihre Beantwortung bietet in den Fällen keine Schwierigkeiten, in denen entweder feststeht, dass der Erfolg ohne das pflichtwidrige Verhalten des Täters vermieden worden, oder feststeht, dass er auch bei pflichtgemäßer Handlungsweise eingetreten wäre. Im ersten Fall muss der ursächliche Zusammenhang bejaht, im zweiten Fall muss er verneint werden. Insoweit besteht ersichtlich kein Streit.

Eine ähnliche Begrenzung erwähnt die vom Oberlandesgericht in Hamm angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofs in VRS 4, 32. Sie besagt aber nichts für die im vorliegenden Fall zu klärende Frage, wann der Tatrichter den Nachweis als erbracht ansehen darf, dass ein verkehrswidriges Verhalten für den eingetretenen Erfolg ursächlich war. Zwischen diesen Grenzfällen liegt nämlich die große Anzahl derjenigen Geschehensabläufe, bei denen er so eindeutige Feststellungen zum Ursachenzusammenhang nicht treffen kann. Auch dann überzeugt ist; in Zweifelsfällen muss er zugunsten des Angeklagten entscheiden.

Ein ernstlicher Zweifel, an den die Rechtsordnung eine so weitreichende Wirkung knüpft, kann allerdings nicht schon dann bejaht werden, wenn die bloß gedankliche Möglichkeit besteht, dass der gleiche Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Täters eingetreten wäre. Der ursächliche Zusammenhang braucht - ebensowenig wie die Schuld des Täters - nicht unter Ausschluss der entferntesten gegenteiligen Möglichkeit festzustehen. Denn für die richterliche Überzeugung ist nur eine der menschlichen Erkenntniskraft mögliche, dagegen keine gedanklich unumstößliche Gewissheit zu fordern (RGSt 61, 202; 66,164; BGH 2 StR 42/50 vom 28. November 1950 in NJW 1951, 122 Nr. 16). Das hat auch der erkennende Senat schon im Urteil vom 23. Oktober 1952 - 4 StR 431/52, mitgeteilt von Dallinger in MDR 1953, 20 - zum Ausdruck gebracht und hervorgehoben, dass sich sonst die Straflosigkeit so gut wie jeder strafwürdigen Unterlassung ergäbe; denn die Möglichkeit, dass der Erfolg auch durch eine andere Ursachenkette herbeigeführt worden wäre, lasse sich kaum je völlig ausschließen.

Wenn der Tatrichter jedoch, wie es ' seine Pflicht ist, seine Überzeugung auf Grund bestimmter Tatsachen gewonnen hat, die seine Zweifel an der Ursächlichkeit des vorwerfbaren Verhaltens zu einem für eine vernünftige lebensnahe Betrachtung beachtlichen Grad verdichtet haben, so dürfen diese Zweifel nicht zum Nachteil des Angeklagten unberücksichtigt bleiben. Dieser Grad ist keineswegs erst dann erreicht, wenn die gegen die Ursächlichkeit sprechenden Umstände überwiegen. Beachtlich sind Zweifel schon, wenn sie die für den Schuldspruch erforderliche Überzeugung von der an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit des Gegenteils vernünftigerweise ausschließen. Damit eine rechtliche Nachprüfung der Frage möglich ist, ob der Tatrichter von zutreffenden Maßstäben für die Bildung seiner Überzeugung ausgegangen ist, müssen die Umstände, welche seine Überzeugung von der Zweifelhaftigkeit eines Ursachenzusammenhangs beeinflusst haben, im Urteil dargelegt und erörtert werden (zur richterlichen Überzeugung s. auch BGHSt 10, 208; ferner Urteile 5 StR v. 31. Januar 1952, LM § 261 Nr. 6, und 3 StR 9/53 v. 21. Mai 1953, LM § 261 StPO Nr. 14).




Das ist im vorliegenden Falle geschehen. Die Strafkammer ist davon ausgegangen, dass der getötete Radfahrer infolge erheblichen Alkoholgenusses "absolut" fahruntüchtig und dass seine Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit stark herabgemindert waren. Sie hat sich den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen angeschlossen, nach denen der Getötete wahrscheinlich das Herannahen des Lastzuges zunächst nicht bemerkte, wegen seines stark angetrunkenen Zustandes plötzlich aufschreckte und daraufhin besonders heftig, verstandesmäßig völlig unkontrolliert und unvernünftig reagierte, wobei er das Fahrrad nach links zog, dabei zu Fall kam und überfahren wurde. Die Strafkammer ist mit dem Sachverständigen davon überzeugt, dass der Unfall sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in gleicher Weise zugetragen haben würde, falls der Angeklagte beim überholen einen genügenden Zwischenraum von 1 bis 1,50 in eingehalten hätte. Auch in diesem Falle hätte der Radfahrer nach der Überzeugung der Strafkammer in gleicher Weise reagiert, wäre in den Lastzug hineingefahren und zu Tode gekommen, wobei er unter Berücksichtigung seiner eigenen Fahrgeschwindigkeit für die Überwindung des größeren Zwischenraums nur Bruchteile einer Sekunde benötigt hätte. Diese Beurteilung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Die zur Verurteilung notwendige Überzeugung des Tatrichters von der Ursächlichkeit des Täterverhaltens für einen Erfolg und demgemäß von seiner Schuld lässt sich ohne Verstoß gegen den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" nicht dahin einengen, dass er dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit nur dann verneinen dürfe, wenn der Eintritt des gleichen Erfolgs auch ohne das pflichtwidrige Verhalten nach menschlichem Ermessen sicher sei. Das würde dazu führen, dass der Richter die Ursächlichkeit der Handlungsweise selbst bei beachtlichen, auf bestimmten Tatsachen beruhenden Zweifeln zu Lasten des Angeklagten bejahen müsste, solange nicht durch sichere Feststellungen der Beweis für den Mangel des ursächlichen Zusammenhangs erbracht ist. Dabei wird - ähnlich wie im umgekehrten Falle - kaum je die "absolute", d.h. denkgesetzlich zwingende Sicherheit gegeben sein, dass der gleiche Erfolg auch bei verkehrsgemäßem Verhalten herbeigeführt worden wäre.



Eine solche Auffassung ließe sich nicht mit der überragenden Stellung, die das Gesetz der freien richterlichen Überzeugung einräumt, und ebensowenig mit dem Grundsatz vereinen, dass im Zweifelsfall zugunsten des Angeklagten erkannt werden muss. Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, insbesondere auch des erkennenden Senats, hat - zum Teil unter Aufgabe früherer Ansichten - ausnahmslos eine von der Rechtsauffassung des vorlegenden Oberlandesgerichts abweichende Meinung vertreten. An ihr muss festgehalten werden.

Demgegenüber greifen die Ausführungen des Vorlagebeschlusses nicht durch. Im Gegensatz zur Meinung des Oberlandesgerichts wäre im vorliegenden Fall, wie die Feststellungen des Landgerichts ergeben, der Erfolg bei verkehrsgerechter Fahrweise des Angeklagten wahrscheinlich nicht entfallen. Es hat im Gegenteil für erwiesen erachtet, dass der Unfall auch dann "mit hoher Wahrscheinlichkeit" den tödlichen Ausgang genommen hätte. Ob sich der Verlauf, "jedenfalls in einzelnen Teilen", anders gestaltet hätte, ist gegenüber dem entscheidenden Todeserfolg unerheblich. Natürlich war die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung im mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. Damit ist aber nicht gesagt, dass die in seinem Verhalten steckende Verkehrswidrigkeit, das zu knappe Überholen, für die Herbeiführung des Tötungstatbestandes gemäß § 222 StGB im strafrechtlichen Sinne ursächlich war. Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten. Für eine das menschliche Verhalten wertende Betrachtungsweise ist vielmehr wesentlich, ob die Bedingung nach rechtlichen Bewertungsmaßstäben für den Erfolg bedeutsam war. Dafür ist entscheidend, wie das Geschehen abgelaufen wäre, wenn der Täter sich rechtlich einwandfrei verhalten bitte. Wäre auch dann der gleiche Erfolg eingetreten oder lässt sich das auf Grund von erheblichen Tatsachen nach der Überzeugung des Tatrichters nicht ausschließen, so ist die vom Angeklagten gesetzte Bedingung für die Würdigung des Erfolges ohne strafrechtliche Bedeutung. In diesem Falle darf der ursächliche Zusammenhang zwischen Handlung und Erfolg nicht bejaht werden.

Diese Entscheidung entspricht der Stellungnahme des Generalbundesanwalts.

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