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Landgericht Saarbrücken v. 20.01.2023 - 13 S 60/22 - Zur Anrechnung der Betriebsgefahr im verkehrsberuhigten Bereich

LG Saarbrücken v. 20.01.2023: Zur Anrechnung der Betriebsgefahr im verkehrsberuhigten Bereich




Das Landgericht Saarbrücken v. 20.01.2023 - 13 S 60/22) hat entschieden:

   Es kann dahinstehen, ob im verkehrsberuhigten Bereich - ähnlich wie auf einem Parkplatz - die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktritt, weil hier die Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert sind, indem Kraftfahrer jederzeit auf den bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen haben, was nur mit der Einhaltung von Schrittgeschwindigkeit und stetiger Bremsbereitschaft vereinbar ist. Jedenfalls führt ein leichter Sorgfaltsverstoß zu einer unfallursächlichen Erhöhung der Betriebsgefahr, die jedenfalls angesichts der einander angenäherten Sorgfaltspflichten im verkehrsberuhigten Bereich nicht zurücktritt und eine Mithaftung in Höhe von 20% rechtfertigt.

Siehe auch
Verkehrsberuhigter Bereich
und
Verkehrswidriges Verhalten des Fahrzeugführers und Bewertung der Betriebsgefahr

Entscheidungsgründe:


I.

Die Klägerin begehrt Schadenersatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfallereignis, das sich am 10.3.2010 im ..., einer verkehrsberuhigten Straße, in ... ereignet hat. Zu dem Unfall kam es, als der Geschäftsführer der Klägerin mit dem Fahrzeug der Klägerin (Mercedes E 320 CDI, ...) aus der Garageneinfahrt seines Wohnhauses (Nr. 11) auf den ... rückwärts ausfuhr und mit dem dort vorbeifahrenden Beklagtenfahrzeug (Peugeot 206, ...) zusammenstieß.

Der Kläger beziffert seinen Sachschaden mit (3.196,27 € Nettoreparaturkosten + 707,28 € Sachverständigenkosten + 237 € Nutzungsausfall 3 Tage + 25 € Kostenpauschale =) 4.165,55 €, den er nebst Zinsen und vorgerichtlichen Kosten mit der Behauptung geltend macht, der Erstbeklagte sei mit überhöhter Geschwindigkeit in sein bereits stehendes Kfz hineingefahren.

Die Beklagten sind dem entgegengetreten und haben vorgetragen, der Erstbeklagte habe zunächst auf dem ... gestanden und kurz gehupt, weil er gemerkt hatte, dass in dem bereits sichtbaren Fahrzeug der Klägerin jemand sitze, der beabsichtige rückwärts aus dem Grundstück herauszufahren. Anschließend sei er mit geringer Geschwindigkeit losgefahren, als das Klägerfahrzeug - ohne dass der Erstbeklagte dies noch sah - rückwärts aus der Einfahrt in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren sei. Der Erstbeklagte habe bis zum Anstoß etwa 10-15 m in sehr langsamer Fahrt zurückgelegt. Nutzungsausfallentschädigung sei, so die Beklagten, bei fiktiver Abrechnung nicht geschuldet und überdies, da es sich um ein gewerbliches Fahrzeug handele, nicht ersatzfähig.




Das Amtsgericht, auf dessen Ausführungen ergänzend Bezug genommen wird, hat die Klage nach Beweiserhebung abgewiesen. Dem gegen den Geschäftsführer der Klägerin bestehenden Anscheinsbeweis eines Verstoßes gegen §§ 10, 9 Abs. 5 StVO stehe kein Verkehrsverstoß des Erstbeklagten gegenüber, weil diesem nur eine Geschwindigkeit von 9,6 km/h und damit annähernde Schrittgeschwindigkeit nachgewiesen werden könne, weshalb die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges zurücktrete.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Sie meint, das Erstgericht habe verkannt, dass der Erstbeklagte den Ausfahrvorgang ihres Geschäftsführers frühzeitig hätte erkennen und durch Abbremsen einen Zusammenstoß vermeiden müssen. Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung.




II.

Die Berufung ist zulässig erhoben. Sie hat auch in der Sache einen geringen Teilerfolg.

1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Kläger- als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Dies ist zutreffend und wird mit der Berufung auch nicht angegriffen.

2. Soweit das Erstgericht einen Verstoß des Geschäftsführers der Klägerin gegen das Sorgfaltsgebot beim Rückwärtsfahren in die nach § 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmende Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile eingestellt hat, begegnet dies im Ergebnis keinen Bedenken. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob, wie es das Erstgericht angenommen hat, § 9 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO) unmittelbar zur Anwendung kommt, oder ob sich in einem, wie hier, verkehrsberuhigten Bereich i.S.d. § 42 StVO Zeichen 325.1/325.2 ein entsprechender Verstoß aus dem allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO ableiten lässt, das etwa auf Parkplätzen, die ähnlich wie ein verkehrsberuhigter Bereich nicht dem fließenden Verkehr gewidmet sind, heranzuziehen ist (vgl. dazu etwa König in Hentschel u.a., Straßenverkehrsrecht 46. Aufl., § 42 StVO Rn. 181 mwN.). Denn auch soweit ein Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO betroffen ist, gilt hier ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden, wenn - wie hier - feststeht, dass das rückwärtsfahrende Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt in Bewegung war (vgl. BGH, Urteil vom 11.10.2016 - VI ZR 66/16, VersR 2017, 186 mwN). Ferner hat das Erstgericht daneben auf Klägerseite einen Verstoß gegen die in § 10 StVO festgehaltene Sorgfaltspflicht beim Ausfahren aus einem Grundstück in die Abwägung gestellt. Dies dürfte vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des BGH, wonach der Schutzzweck der Vorschrift nicht allein dem fließenden Verkehr, sondern allen Verkehrsteilnehmern dient, zutreffen. Die Berufung greift dies auch nicht an.


3. Soweit das Erstgericht angenommen hat, dem Erstbeklagten sei allenfalls ein geringfügiger unfallursächlicher Verkehrsverstoß nachzuweisen, begegnet dies ebenfalls keinen Bedenken. Die beweissicher nachvollziehbare Kollisionsgeschwindigkeit bewegt sich jedenfalls in einem Bereich, der ein Überschreiten der im verkehrsberuhigten Bereich geltenden Schrittgeschwindigkeit, deren Obergrenze teils bis 7 km/h, teils darüber hinaus bis 10 bzw. 15 km/h gezogen wird (s. den Überblick bei König aaO mwN.) nicht, allenfalls geringfügig überschreitet. Soweit die Berufung meint, der Erstbeklagte habe das ausfahrende Fahrzeug frühzeitig erkennen und durch frühzeitiges Abbremsen den Unfall verhindern können, ist zu berücksichtigen, dass der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten und in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausgeführt hat, bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit (gemeint ist 4-7 km/h) sei der Unfall bei Zugrundelegung einer bestimmten Annäherung des Beklagtenfahrzeuges (GA 109, Bl. 28 Gutachten) für den Erstbeklagten vermeidbar gewesen (GA 132). Zwar kann das Annäherungsverhalten des Beklagtenfahrzeuges nicht mehr hinreichend nachgezeichnet werden, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beklagtenfahrzeug sich erst beschleunigend bis zur Höhe der Kollisionsgeschwindigkeit dem späteren Kollisionsort genähert hat, was einem Vermeidbarkeitsnachweis - wie der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat - entgegenstünde. Jedoch ist hier zu berücksichtigen, dass der Erstbeklagte nach eigener Darstellung bereits die Gefahr erkannt hatte, dass das mit Person(en) besetzte Klägerfahrzeug - über kurz oder lang - rückwärts ausfahren würde, weshalb er vorsorglich gehupt hatte. Angesichts der so erkannten Gefahr hätte es nahegelegen, beim Losfahren das Klägerfahrzeug weiter zu beobachten, um bei dessen Zurücksetzen notfalls sofort anhalten zu können. Dies hat der Erstbeklagte nach eigener Darstellung verabsäumt, denn er ist losgefahren, ohne das Klägerfahrzeug weiter zu beobachten und vorkollisionär zum Stehen zu kommen.

4. Dies führt hier insoweit zu einer abweichenden Haftungsverteilung, als die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht zurücktritt. Dabei kann dahinstehen, ob im verkehrsberuhigten Bereich - ähnlich wie auf einem Parkplatz - die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktritt, weil auch hier die Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert sind, indem Kraftfahrer jederzeit auf den bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen haben (König aaO), was nur mit der Einhaltung von Schrittgeschwindigkeit und stetiger Bremsbereitschaft vereinbar ist. Jedenfalls führt der leichte Sorgfaltsverstoß auf Beklagtenseite zu einer unfallursächlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges, die jedenfalls angesichts der einander angenäherten Sorgfaltspflichten im verkehrsberuhigten Bereich nicht zurücktritt und eine Mithaftung der Beklagten in Höhe von 20% rechtfertigt.

5. Von den geltend gemachten Schäden ist die Nutzungsausfallentschädigung, wie die Beklagten mit Recht eingewandt haben, nicht zu ersetzen. Eine Reparaturdurchführung, die unerlässliche Voraussetzung auch bei fiktiver Schadensabrechnung ist (statt aller: Geigel/Katzenstein, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 3 Rn. 181, 182; Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 13.10.2022), Rn. 222, jew. m.w.N.), ist bereits nicht dargetan.



6. Vor diesem Hintergrund beläuft sich der ersatzfähige Schaden der vorsteuerabzugsberechtigten Klägerin auf unstreitige (3.196,27 € Nettoreparaturschaden + 707,28 € Sachverständigenkosten + 25 € Unkostenpauschale =) 3.928,55 €, von dem die Beklagten 20% = 785,71 € zu ersetzen haben. Hinzu kommen Verzugszinsen (§§ 286 f. BGB) sowie vorgerichtliche Anwaltskosten, deren Höhe sich auf der Grundlage des berechtigten Erstattungsbetrages gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV in Höhe einer 1,3-Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 27.05.2014 - VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) auf 104 € zzgl. 20,00 € (Pauschale) = 124 € netto beläuft.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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