Das Verkehrslexikon

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Akteneinsichtsrecht in die Rohmessdaten von Messgeräten

Akteneinsichtsrecht in die Rohmessdaten von Messgeräten




Gliederung:


   Einleitung
Weiterführende Links
Verfassungsrechtsprechung
Sonstige Gerichte

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Einleitung:


In einem Beschluss vom 18.01.2019 - 1 OWi 2 Ss Rs 70/18 - zu dem es keine gesonderten Gründe gibt - hat das OLG Zweibrücken auf das Problem rechtzeitiger Antragstellung aufmerksam gemacht:

   Wird ein Antrag auf Beziehung der Messdatei (erst) in der Hauptverhandlung gestellt und hat sich der Tatrichter von der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung durch die Beweisaufnahme überzeugt, wird durch die Ablehnung des Antrags des Betroffenen, die Rohmessdaten beizuziehen und durch einen Sachverständigen auf etwaige Messfehler prüfen zu lassen, weder der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt noch die Verteidigung in einem wesentlichen Punkt i.S.d. § 338 Nr. 8 StPO beschränkt.


Auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 sollten die bisher für die Betroffenen überwiegend ungünstigen Auffassungen vieler Gerichte der Vergangenheit angehören.

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Weiterführende Links:


Akteneinsicht

Akteneinsichtsrecht in die Bedienungsanleitungen, die Lebensakten und die Rohmessdaten von Messgeräten

Geschwindigkeitsmessungen allgemein

Messgeräteaufstellung und Einhaltung der Richtlinien bei Feststellung von Geschwindigkeits- und Abstandsverstößen

Einhaltung der Bedienungsanleitung bei Messgeräten

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Verfassungsrechtsprechung:


VerfGH Saarland v. 27.04.2018:
1. Der Anspruch des Betroffenen auf ein faires Verfahren und rechtliches Gehör wird durch die Nichtherausgabe einer lesbaren Falldatei mit Token-Datei und Passwort sowie der Statistikdatei verletzt. Dem Betroffenen sind die bei der Messung angefallenen digitalen Daten als Grundlage der Messung - auch wenn sie sich nicht in der Akte befinden und damit von § 147 StPO iVm § 46 OWiG nicht erfasst werden - zur Verfügung zu stellen.

2. Gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens wird verstoßen, wenn dem Betroffenen eines auf Daten eines standardisierten Messverfahrens beruhenden Bußgeldverfahrens (hier: Feststellung eines Rotlichtverstoß mittels stationärem Lasermessgerät "PoliScan F1 HP") die Messdaten nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden.

VerfGH Saarland v. 05.07.2019:
   Fehlt es – wie hier bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät "Traffistar 350S" – an Rohmessdaten für den Messvorgang und s0ll sich die Verurteilung nur auf das Messergebnis und das Lichtbild des Fahrzeugführers stützen, so fehlt es an einem fairen rechtsstaatlichen Verfahren, wenn sich ein Betroffener gegen das Messergebnis wendet und ein Fehlen von Rohmessdaten rügt.

Solange eine Messung nicht durch die Bereitstellung der Datensätze einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich gemacht wird, ist dies rechtsstaatlich nicht hinnehmbar.

BVerfG v. 12.11.2020:
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt, dass der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens ebenso wie der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (Rohmessdaten).

VerfGH Thüringen v. 11.01.2021:
Die Annahme offener Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gegen ein einmonatiges Fahrverbot (hier im Fall nicht aufgezeichneter Rohmessdaten) rechtfertigt im Rahmen einer Folgenabwägung den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht, sofern nicht existenzbedrohende Folgen dieses Fahrverbots dargelegt sind.

OVG Saarbrücken v. 18.02.2021:
Die zur Zugänglichmachung der Messdaten in Bußgeldverfahren ergangenen Entscheidungen des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 27.4.2018 - LV 1/18 - und vom 5.7.2019 - LV 7/17 - entfalten für die saarländischen Verwaltungsbehörden und die Gerichte der saarländischen Verwaltungsgerichtsbarkeit gemäß § 10 Abs. 1 SVerfGHG Bindungswirkung auch in Verfahren betreffend die Anordnung einer Fahrtenbuchauflage.

BVerfG v. 04.05.2021:
Aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) kann grds ein Anspruch auf Zugang des Betroffenen zu nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen. Eine Versagung einesf solchen Informationszugangs wird dieser Gewährleistung nicht gerecht, weil es die Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen einschränkt (vgl BVerfG, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18; BVerfG, 28.04.2021, 2 BvR 1451/18).

VerfGH Rheinland-Pfalz v. 13.12.2021:
  1.  Gelangt im Ordnungswidrigkeitenverfahren ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 77 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 LV) im Grundsatz der Anspruch des Betroffenen, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden und weiterhin vorhanden sind, aber nicht zur Bußgeldakte genommen wurden.

  2.  Ein Anspruch auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen setzt in formeller Hinsicht voraus, dass die begehrten Informationen hinreichend konkret benannt werden. In materieller Hinsicht erfordert der Anspruch auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte gelangten Informationen einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf sowie eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung. Der Anspruch auf Einsicht in nicht zur Bußgeldakte gelangte Informationen besteht nicht, wenn gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter entgegenstehen (wie BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 2 BvR 1616/18 ).

VerfGH Bayern v. 13.01.2022:
  1.  Die Verfassungsbeschwerde ist ein letzter außerordentlicher Rechtsbehelf mit subsidiärem Charakter. Über die formelle Erschöpfung des Rechtswegs hinaus verlangt deshalb der in Art. 51 Abs. 2 Satz 1 VfGHG zum Ausdruck kommende Grundsatz der materiellen Subsidiarität, dass ein Beschwerdeführer bereits in dem nach der einschlägigen Prozessordnung offenstehenden Rechtsmittelverfahren formgerecht und substanziiert diejenigen Beanstandungen vorgetragen hat, die er nunmehr im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend machen will; hat er dies versäumt, ist es ihm verwehrt, sie nachträglich im Weg der Verfassungsbeschwerde zu erheben (vgl. VerfGH vom 24.10.2017 – Vf. 9-VI-17 – juris Rn. 42 m. w. N.). Dieser Grundsatz erfordert weiter, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde jede tatsächliche und prozessuale Möglichkeit ausschöpft, um eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte abzuwenden. Er muss das ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird

  2.  In einem Ordnungswidrigkeitenverfahren wie im hiesigen Ausgangsverfahren bedeutet dies, dass der Betroffene zur Wahrung des verfassungsprozessualen Grundsatzes materieller Subsidiarität seinen Anspruch auf Herausgabe bzw. Zugänglichmachung der von ihm zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens für erforderlich gehaltenen Daten (insbesondere Rohmessdaten) grundsätzlich bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde geltend gemacht und bei dessen Ablehnung einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 OWiG gestellt haben muss (ebenso VerfGH RhPf vom 25.5.2020 – VGH B 17/20 – BA S. 4; vom 20.7.2020 – VGH B 46/20 u. a. – BA S. 6; vom 18.8.2020 – VGH B 49/20 – BA S. 6, jeweils nicht veröffentlicht; vom 21.6.2021 – VGH A 39/21 – juris Rn. 27).

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Sonstige Gerichte:


AG Senftenberg v. 26.04.2011:
Hat ein Verteidiger in einem Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung einem öffentlich bestellten und allgemein vereidigten Sachverständigen Untervollmacht zur Einsichtnahme in die Messdatei erteilt, so hat der Sachverständige das Recht, die vollständige Messserie in Augenschein zu nehmen. Dabei beschränkt sich das Akteneinsichtsrecht nicht auf Einsicht in die Originaldateien in den Räumen der zentralen Bußgeldstelle. Die Messserie ist vielmehr mit allen Originaldateien dem Sachverständigen zu übersenden.

AG Stuttgart v. 29.12.2011:
Dem Verteidiger im Bußgeldverfahren wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes ist Einsicht in den vollständigen Messfilm zu gewähren. Dies kann durch Übersendung des Messfilms in Kopie auf einem von Verteidiger überlassenen Datenträger geschehen.

AG Duderstadt v. 25.11.2013:
Der Verteidiger eines Betroffenen im Bußgeldverfahren hat gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 StPO ein Recht auf Akteneinsicht, welches alle Schriftstücke sowie Bild-, Video- und Tonaufnahmen umfasst, die für den Betroffenen als belastend oder entlastend von Bedeutung sein können. - Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich auch auf einen Messfilm (hier einer Rotlichtüberwachungsanlage), der sich nicht in der Akte, sondern bei der Bußgeldbehörde befindet. Einsicht in den vollständigen Messfilm ist dem Verteidiger durch Übersendung einer Kopie des Messfilms auf einem von ihm zur Verfügung zu stellenden Datenträger zu gewähren.

AG Königs Wusterhausen v. 17.03.2015:
Im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung hat der Verteidiger ein Einsichtsrecht auch in eine komplette Messreihe. Allerdings hat der Verteidiger keinen Anspruch darauf, die Messreihe in einem allgemein lesbaren Format zu erhalten.

OLG Oldenburg v. 06.05.2015:
Wird dem Betroffenen nach einer Geschwindigkeitsmessung mit PoliscanSpeed eine Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeworfen und gibt ihm die Verwaltungsbehörde trotz mehrfacher Anträge der Verteidigung die Messdatei nicht heraus, stellt eine Verurteilung durch das Amtsgericht unter Zurückweisung eines Beweisantrags auf Einholung eines Sachverständigengutachtens und ohne jede Begründung für die Nichtherausgabe der Messdatei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, die zur Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG führt.

AG Landshut v. 06.11.2015:
Der Betroffene hat einen Anspruch auf Übermittlung der unverschlüsselten Rohmessdaten des Messtages zwecks Überprüfung durch einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen. - Hat die Zentrale Bußgeldstelle seitens des Messgeräteherstellers nur verschlüsselte Daten zur Verfügung gestellt bekommen, ist der Gerätehersteller zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen verpflichtet, dem seitens der Behörde oder des Gerichts benannten Sachverständigen den Code zur Entschlüsselung der Daten des Messtages zu übermitteln, ohne dass dem Hersteller dafür die Daten des Messtages übersendet werden müssten.

OLG Celle v. 21.04.2016:
Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze für die Anforderungen an eine Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs bei beantragter Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung eines Messgerätes sind auch auf die Herausgabe von Rohmessdaten zu übertragen. Danach muss sich der Betroffene bis zum Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist um die Herausgabe und ggf. Entschlüsselung der Rohmessdaten bemühen und vortragen, welche Anstrengungen er insoweit bis zum Ablauf der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist unternommen hat (OLG Celle, 21. März 2016, 2 Ss (OWi) 77/16). - Der Betroffene muss sich außerhalb der Hauptverhandlung und ggf. auch unter Einsatz finanzieller Mittel darum bemühen, Anhaltspunkte für eine Fehlmessung zu ermitteln. Wenn das Amtsgericht es aus Amtsaufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet, selbst in die Rohmessdaten Einsicht zu nehmen bzw. dazu ein Sachverständigengutachten einzuholen, weil keine konkreten Anhaltspunkte für eine Fehlmessung vorliegen, ist dies nicht zu beanstanden.

OLG Celle v. 16.06.2016:
Werden einem Betroffenen beim Vorwurf eines Geschwindigkeitsverstoßes die Geschwindigkeitsmessdaten nebst zugehörigem Token trotz entsprechenden Antrages nicht zur Verfügung gestellt, stellt dies eine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar.

OLG Frankfurt am Main v. 11.08.2016:
Beweismittel für einen Geschwindigkeitsverstoß ist das Messbild in der Gerichtsakte. Die Verwaltungsbehörde hat die Authentizität der Falldatei mit dem Messbild sicherzustellen. Die Auswertung (Umwandlung der Falldatei in das Messbild und Bewertung) ist von der nach § 47 Abs. 1 OWiG i. v. m. § 26 Abs. 1 StVG zuständigen Behörde vorzunehmen. Ist das nicht sichergestellt, kann das Tatgericht nach § 69 Abs. 5 OWiG verfahren. - Der Betroffene hat ein Recht auf Einsicht in "seine Falldatei" bei der Verwaltungsbehörde. Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet die "Falldatei" im Gerichtsverfahren beizuziehen.

OLG Bamberg v. 05.09.2016:
Durch die bloße Nichtüberlassung der nicht zu den Akten gelangten sog. Rohmessdaten einer standardisierten Messung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 39, 291; 43, 277) wird der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör von vornherein nicht beeinträchtigt (u.a. Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983, 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548); BGH, Urteil vom 26. Mai 1981, 1 StR 48/81, BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860; Aufrechterhaltung von OLG Bamberg, Beschluss vom 4. April 2016, 3 Ss OWi 1444/15, DAR 2016, 337 = StRR 2016, 16; entgegen OLG Celle, Beschluss vom 16. Juni 2016, 1 Ss OWi 96/16).


OLG Oldenburg v. 13.03.2017:
Soweit es um die Frage geht, ob ein in der Hauptverhandlung durch Beschluss abschlägig beschiedener Antrag auf Herausgabe einer Kopie der Messdatei im Rahmen der Rechtsbeschwerde mit Erfolg gerügt werden kann, hält der Senat an dem im Beschluss vom 6.5.2015 genannten Grundsatz eines Anspruchs auf Zugänglichmachung der Messdatei nicht fest (Aufgabe OLG Oldenburg v. 06.05.2015:). Der Senat folgt vielmehr dem ausführlich begründeten Beschluss des OLG Bamberg (DAR 2016, 337 ff.), wonach die Ablehnung eines Antrages der Verteidigung auf Einsichtnahme in die digitale Messdatei und deren Überlassung einschließlich etwaiger so genannter Rohmessdaten nicht gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstößt.

OLG Hamm v. 20.06.2017:
Durch die Nichtüberlassung der Rohmessdaten - oder der Lebensakte und der Gebrauchsanweisung des Messgerätes sowie des Messfilms, Messdateien, des Messvideos -, die sich nicht bei den Akten, sondern bei der Verwaltungsbehörde befinden, wird der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) von vornherein nicht beeinträchtigt.

OLG Bamberg v. 13.06.2018:
1. Die Ablehnung eines Antrags des Betroffenen auf Beiziehung, Einsichtnahme oder Überlassung digitaler Messdateien oder weiterer nicht zu den Akten gelangter Messunterlagen verletzt weder das rechtliche Gehör noch das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren. Es handelt sich um einen Beweisermittlungsantrag, über den der Tatrichter unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) zu befinden hat (Festhaltung u.a. an OLG Bamberg, Beschlüsse vom 4. April 2016, 3 Ss OWi 1444/15, DAR 2016, 337 = OLGSt StPO § 147 Nr. 10; 5. September 2016, 3 Ss OWi 1050/16, StraFo 2016, 461 = VA 2016, 214; 24. August 2017, 3 Ss OWi 1162/17, DAR 2017, 715 und 4. Oktober 2017, 3 Ss OWi 1232/17, NZV 2018, 80 = NStZ 2018, 235; entgegen VerfGH Saarbrücken, Beschluss vom 27. April 2018, 1 Lv 1/18).

2. Die Annahme, den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens treffe eine "Darlegungs- und Beibringungslast" in Bezug auf die geltend gemachte Unrichtigkeit des im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens erzielten Messergebnisses ist mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.

OLG Oldenburg v. 23.07.2018:
Keine Verletzung der Rechte des Betroffenen bei in der Hauptverhandlung abgelehntem Antrag auf Herausgabe der sich nicht bei der Akte befindlichen Messdatei (Anschluss an OLG Bamberg, Beschluss vom 13. Juni 2018, 3 Ss OWi 626/18; entgegen VerfG Saarland, Beschluss vom 27. April 2018, Lv 1/18).

OLG Hamm v. 03.01.2019:
Unter Umständen wird dem Betroffene unmöglich gemacht, Anhaltspunkte für eine Fehlmessung vorzutragen, wenn die Messdaten nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Damit kann eine erfolgversprechende Verschaffung rechtlichen Gehörs unmöglich gemacht werden, wenn der Betroffene überhaupt keine Möglichkeit gehabt hat, an die entsprechenden Originalmessdaten zu gelangen. Deswegen gehört zu einer entsprechenden Begründung der Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht nur die Wiedergabe des entsprechenden Antrages in der Hauptverhandlung und seiner Bescheidung durch den Tatrichter, sondern auch die Darlegung, welche Anstrengungen der Betroffene außerhalb der Hauptverhandlung in dieser Hinsicht unternommen hat, ob er etwa gegenüber der Verwaltungsbehörde tätig geworden ist und wie diese auf seine Anfragen reagiert hat (ähnlich: OLG Celle, Beschl. v. 21.04.2016 -2 Ss OWi 82/16-).



LG Hanau v. 07.01.2019:
  1.  Bei dem Geschwindigkeitsmessverfahren mittels des Messgeräts M5 RAD2 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem im Wege antizipierten Sachverständigengutachtens grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt wurde. Die Richtigkeitsvermutung kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vorträgt. Es wird ihm also eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast auferlegt.

  2.  Diese Punkte vorzutragen, also die Ausübung rechtlichen Gehörs wird ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn die Messdaten als die Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Für den Betroffenen bzw. für seinen Verteidiger ist es nur dann möglich der Darlegungslast nachzukommen und das Messergebnis in Zweifel zu ziehen, wenn er die vom jeweiligen Messgerät erzeugten Digitaldaten als Grundlage jeder Messung technisch auswerten lassen kann. Als Konsequenz hieraus und im Hinblick auf ein faires Verfahren hat die Verwaltungsbehörde daher dem Betroffenen bzw. soweit noch nicht geschehen auch das Amtsgericht Zugang zu Informationen zu gewähren, die zu seiner Verteidigung von Bedeutung sein können.

OLG Karlsruhe v. 03.04.2019:
Die unterbliebene Beiziehung von Messunterlagen berührt nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör.


OLG Karlsruhe v. 08.05.2019:
Die Ablehnung des Antrags auf Beiziehung von nicht bei den Akten befindlichen Messunterlagen, die eine Überprüfung des Messergebnisses eines standardisierten Messverfahrens ermöglichen, verletzt nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör.

OLG Bremen v. 06.04.2020:
Eine Überprüfung der Messergebnisse eines standardisierte Messverfahrens ist nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für Messfehler geboten, und dieser Rechtsstandpunkt schließt es zugleich entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes sowie des Oberlandesgerichts Saarbrücken aus, diese Messergebnisse schon wegen des allgemeinen Umstands der nicht erfolgten Speicherung von Rohmessdaten als unverwertbar anzusehen.

BayObLG v. 06.04.2020:
Die unterbliebene Überlassung von nicht zu den (Gerichts-) Akten gelangten Unterlagen sowie der (digitalen) Messdaten einschließlich der sog. Rohmessdaten oder der Messreihe stellt für sich genommen weder eine Verletzung des rechtlichen Gehörs noch einen Verstoß gegen das faire Verfahren dar. Vielmehr handelt es sich bei den entsprechenden Anträgen um Beweisermittlungsanträge, deren Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten gerügt werden kann.

OLG Zweibrücken v. 05.05.2020:
Die Ablehnung eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrages auf Beiziehung und Einsichtsgewährung in nicht bei den Akten befindliche Falldatensätze verletzt grundsätzlich weder den Anspruch auf Akteneinsicht (§ 147 StPO, § 46 OWiG) noch den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör. Das Akteneinsichtsrecht des Betroffenen bezieht sich nur auf das gegen ihn geführte Verfahren, nicht hingegen auf Aktenbestandteile anderer Verfahren. Ein Anspruch auf Erweiterung des vorhandenen Aktenbestandes lässt sich aus § 147 StPO nicht herleiten. Bei dem Antrag auf Beiziehung entsprechender Unterlagen handelt es sich vielmehr in der Sache um einen Beweisermittlungsantrag, dessen Ablehnung nur unter Aufklärungsgesichtspunkten (§ 244 Abs. 2 StPO) gerügt werden kann.

AG Cottbus v. 03.06.2020:
Dem Verteidiger des Betroffenen bzw. dem unterbevollmächtigten Sachverständigen steht ein Einsichtsrecht in die so genannten Rohmessdaten zu. Die Einsicht in den gesamten Film bzw. die gesamte digitale Messserie ist nur in den Räumen der Verwaltungsbehörde zu gewähren. Ein Anspruch auf Versendung des gesamten Messfilms bzw. der gesamten digitalen Messserie besteht nicht.

VG Saarlouis v. 09.12.2020:
Die Bindungswirkung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes (§ 10 Abs. 1 VerfGHG SL) (juris: VGHG SL) zur Verwertbarkeit von Geschwindigkeitsmessungen durch ein Gerät des Typs TraffiStar S 350 in einem Bußgeldverfahren (Urteil vom 05.07.2019 - Lv 7/17 -, juris) erfasst nicht auch Verwaltungsverfahren zur Anordnung der Führung eines Fahrtenbuchs aufgrund einer Messung durch das Gerät Vitronic PoliScan Speed FM1 (entgegen OVG des Saarlandes, Beschlüsse vom 07.10.2020 - 1 B 272/20 - und 30.03.2020 - 1 B 5/20 und 15/20 -, juris).




BayObLG v. 04.01.2021:
  1.  Aus dem Recht auf ein faires Verfahren kann sich im Zusammenhang mit einer standardisierten Messung im Straßenverkehr ein Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu nicht bei der Bußgeldakte befindlicher, aber bei der Verfolgungsbehörde vorhandener und zum Zwecke der Ermittlungen entstandener bestimmter Informationen, hier der sog. ‚Rohmessdaten‘ einer konkreten Einzelmessung, ergeben (Anschluss an BVerfG [3. Kammer des 2. Senats], Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 bei juris).

  2.  Demgegenüber wird durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. ‚Rohmessdaten‘ das rechtliche Gehör des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt (Festhaltung u.a. an BayObLG, Beschl. v. 09.12.2019 – 202 ObOWi 1955/19 = DAR 2020, 145 = BeckRS 2019, 31165; 06.04.2020 – 201 ObOWi 291/20 bei juris und KG, Beschl. v. 02.04.2019 - 122 Ss 43/19 bei juris).

  3.  Ein Anspruch des Betroffenen und seiner Verteidigung auf Einsichtnahme und Überlassung der (digitalen) Daten der gesamten Messreihe besteht nicht (u.a. Anschluss an OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2020 - 1 OWi 2 SsBs 94/19 = ZfSch 2020, 413 und 27.10.2020 – 1 OWi 2 SsBs 103/20 bei juris).



AG St. Ingbert v. 13.01.2021:
Einschränkende Leitsätze zur Umsetzung und Anwendung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts - Leivtec XV3

OLG Brandenburg v. 19.02.2021:
Die Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren und die Ablehnungsmöglichkeiten nach § 77 Abs. 2 OWiG begrenzen die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen in zeitlicher Hinsicht. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu (vgl. BVerfGE 63, 45, 67) er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen Zugang rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt, was von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist (BVerfG, Beschluss vom 12. November 2020, 2 BvR 1616/18, abgedruckt in NZV 2021, 41 ff. Rn. 60 a.E.).

AG Schlieden v. 03.03.2021:
Bei dem Messverfahren ESO ES 8.0 handelt es 0um ein standardisiertes Messverfahren. Die Messdaten des Tattages sind nicht Aktenbestandteil im engeren Sinne. Es ist jedoch unabdinglich, dem Betroffenen das ihm zustehende rechtliche Gehör zu gewähren und ein faires Verfahren zu gewährleisten. Die dem Verfahren zu Grunde liegenden Messdaten sind – soweit sie den Betroffenen selbst betreffen – Grundlage und originäres unveränderliches Beweismittel des Tatvorwurfs, so dass diese in jedem Fall dem Betroffenen zugänglich zu machen sind. Darüber hinaus besteht auch ein Einsichtsrecht in die gesamten Messdaten der Messreihe des Tattages.

AG Landstuhl v. 08.04.2021:
  1.  Es gibt keinen Grundsatz, dass die Erhebungsdaten eines standardisierten Verfahrens der Geschwindigkeitsmessung stets gespeichert werden müssen.

  2.  Inhaltlich ist dem Betroffenen vor der Hauptverhandlung zwar voller Einblick in die Messung betreffende Unterlagen oder Daten zu gewähren, um sie ggf. sachverständig überprüfen zu lassen. Ein Anspruch auf Einsicht in die gesamte Messreihe besteht dabei jedoch nicht.

AG Bernau v. 09.09.2021:
Dem Verteidiger ist Akteneinsicht in die gesamte Messserie vom Tattag sowie in die gegenständliche Tuff-Datei nebst Passwort und Token zu gewähren. Die Akteneinsicht ist durch Übersendung in die Kanzleiräume, in geeigneten Fällen, nachdem der Verteidiger ein entsprechend geeignetes Speichermedium zur Verfügung gestellt hat, oder, wenn dies technisch nicht anders möglich ist, in den Räumen einer entsprechenden Verwaltungsbehörde in unmittelbarer Nähe zu den Kanzleiräumen des Verteidigers zu gewähren.

AG St. Ingbert v. 15.09.2022:
Wird bei der Messung mit einem Gerät PoliScan von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen, bedarf es der Hinzuziehung eines Beschilderungsplanes bzw. der verkehrsrechtlichen Anordnung nicht (OLG Zweibrücken, Beschluss vom 5. Mai 2020 - 1 OWi 2 SsBs 94/19). Die Messörtlichkeit einschließlich der Beschilderung ist durch das Messprotokoll in der Akte ausreichend dokumentiert.

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