Das Verkehrslexikon

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Haftung bei ungeklärtem Sachverhalt - unaufklärberer Unfallverlauf

Haftung bei ungeklärtem Sachverhalt - unaufklärbarer Unfallverlauf




Gliederung:


-   Einleitung
Europarecht und Schadensteilung
Schuldbekenntnis nach Unfall



Einleitung:


Häufig kommt es vor, dass keiner an einem Unfall beteiligten Partei genügend Beweismittel zur Verfügung stehen, um den von ihr behaupteten Unfallverlauf zur Überzeugung des Gerichts zu beweisen. Dann müssen die mit der Lösung des Falls betrauten Personen (Versicherungssachbearbeiter, Anwälte, Richter) trotzdem eine Haftungsabwägung nach den Vorschriften des Straßenverkehrsgesetzes vornehmen (§§ 7, 17 StVG).

Das wird im Ergebnis in der Regel dazu führen, dass mangels klarer Bewertungstatsachen eine jeweils hälftige Mithaftung aus der Betriebsgefahr angenommen werden muss, sofern Kraftfahrzeuge am Unfall beteiligt waren.


Aber auch bei Unfallkonstellationen ohne Kfz-Beteiligung wird oft eine Schadensteilung angezeigt sein.

Handelt es sich um einen Unfall zwischen einem Kfz und einem nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer ('Fußgänger, Radfahrer), dann kann die in derartigen Fällen zu berücksichtigende Betriebsgefahr von Kfz auch zu einer vollen Haftung des Kfz-Führers und -halters führen, sofern gegen den nichtmotorisierten Beteiligten keine Verschuldensvermutung spricht, was auch auf Grund eines Anscheinsbeweises der Fall sein kann.

Zur rechtlichen Erläuterung des Vorgehens bei der Haftungsabwägung bei einem ungeklärten Unfallverlauf hat das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 09.10.2012 - 22 U 109/11) ausgeführt:

   "Das Landgericht hat zu Unrecht eine Haftungsverteilung dergestalt angenommen, dass jede Partei bei unaufklärbarem Unfallhergang lediglich 25% ihres Schadens verlangen kann. Da sowohl der Kläger als auch der Beklagte zu 1) Halter ihres Fahrzeugs sind, haften beide gemäß § 7 StVG für die von ihren Fahrzeugen ausgehende Gefahr, und zwar zunächst zu 100%. Dies gilt grundsätzlich nicht nur für den Schaden der anderen Partei, sondern auch für den eigenen Schaden.

Die Beklagten haften gemäß den §§ 7, 18 StVG, 115 VVG 2008 (seit dem 1.1.2008 gilt nicht mehr nach § 3 PflichtVersG, den das Landgericht noch zitiert) für den aus dem Unfall entstandenen Schaden. Die Voraussetzungen der genannten Vorschriften liegen unzweifelhaft vor. Die Beklagten haben nicht beweisen können, dass der Unfall für den Beklagten zu 1) unabwendbar i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG war.

Steht mithin die grundsätzliche Haftung der Beklagtenseite fest, ist zu prüfen, ob eine Mithaftung der Klägerseite zu berücksichtigen ist. Dafür kommt als rechtliche Grundlage nur § 17 StVG in Betracht. § 17 StVG bezieht sich nach seinem Wortlaut auf alle Ansprüche kraft Gesetzes, nicht lediglich auf solche des StVG. Damit wird er zur Zentralnorm der Haftungsverteilung im Straßenverkehrsrecht. Denn auch die gesamten deliktischen Ansprüche werden von ihm erfasst. § 17 StVG ist damit lex specialis gegenüber § 254 BGB, der bei der Haftungsverteilung mehrerer Halter untereinander nicht anzuwenden ist.

§ 17 Abs. 1 StVG setzt zunächst voraus, dass beide Halter dem Geschädigten gegenüber haften, und zwar gemäß § 840 Abs. 1 BGB als Gesamtschuldner in vollem Umfang, unabhängig von dem konkreten Grad der Beteiligung (BGH 5.10.10 - VI ZR 286/09 -). Der Gesamtschuldnerausgleich richtet sich grundsätzlich nach § 426 Abs.1 BGB: Haftung nach Kopfteilen, soweit nicht ein anderes bestimmt ist. Diese andere Bestimmung liegt in § 17 Abs.1, der die interne Haftungsverteilung nach dem Verhältnis der Verursachung vornimmt. Der seit dem 1.8.2002 redaktionell klarer gefasste Absatz 2 bezieht die Ausgleichungspflicht auch auf den Fall, dass einer dieser Halter selbst geschädigt ist. Diese Verweisung setzt zunächst voraus, dass beide Halter nach § 7 StVG oder deliktischen Vorschriften in vollem Umfang für den gesamten Unfallschaden einzustehen haben. Außerdem muss zumindest ein Halter zugleich Geschädigter sein, d.h. Rechtsgutsinhaberschaft und Haltereigenschaft müssen zusammenfallen. Im Rahmen des § 17 Abs. 2 StVG muss er sich dann die von seinem Fahrzeug ausgehenden Mitverursachungsanteile nach den Abwägungsgrundsätzen des § 17 Abs. 1 StVG anspruchsmindernd anrechnen lassen.

Die Verweisung in Absatz 2 wird dann verständlich, wenn man sich verdeutlicht, dass auch der geschädigte Halter gemäß den §§ 7 StVG, 840 Abs. 1 BGB in gleicher Weise für den gesamten Unfallschaden haftet wie der andere Halter, also auch für den Schaden an seinem eigenen Fahrzeug.

Diese Grundsätze gelten wegen der Verweisung in § 18 Abs. 3 StVG auch für den Fahrer.

Deshalb ist auch für die Klägerseite zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 7 StVG gegeben sind. Dies ist unzweifelhaft der Fall. Die Klägerseite hat ebenfalls ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG nicht beweisen können.

Liegen mithin die Voraussetzungen der §§ 17 Abs. 1, 18 Abs. 3 StVG vor, richtet sich die Haftungsverteilung nach den Umständen, insbesondere danach, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungsanteile können allerdings nur solche Umstände berücksichtigt werden, die entweder unstreitig oder bewiesen sind. Auf ein Verschulden kommt es nur nachrangig an, da zunächst die objektiven Umstände der Unfallverursachung maßgeblich sind. Dabei hat jede Seite die Umstände zu beweisen, die für sie günstig, für die Gegenseite also ungünstig sind.

Zur Abwägung der Verursachungsanteile sind diese zunächst für jede Seite herauszuarbeiten. Dabei wird in Rechtsprechung und Literatur regelmäßig von der Höhe der Betriebsgefahr gesprochen, die je nach Fahrzeugtyp und Verkehrssituation unterschiedlich sein kann. Grundsätzlich ist nach dem Vorhergesagten festzustellen, dass die Betriebsgefahr eines Fahrzeugs (nämlich das Vorliegen der Haftungsvoraussetzungen) gemäß § 840 BGB zu einer hundertprozentigen Haftung führt. Bei Beteiligung von zwei KFZ gilt zunächst die Haftung nach Kopfteilen, die durch solche gefahrträchtigen Umstände verändert wird, die sich der Fahrzeughalter im konkreten Fall als unfallursächlich zurechnen lassen muss.

Kommen ein Fehlverhalten des Fahrers, ein Mangel am Fahrzeug oder Besonderheiten des Fahrzeugs und der Verkehrssituation als Unfallursachen in Betracht, erhöht sich der Verursachungsanteil auf der einen Seite, während er sich zugleich auf der anderen Seite verringert. Dieser Vorgang ist mit einer Balken-Waage zu vergleichen, deren zunächst gleich hohe Schalen durch einseitige Belastung verschoben werden.

Bei jedem Beteiligten ist deshalb zu prüfen, inwieweit sich sein zunächst in gleicher Höhe (50%) bestehender Haftungsanteil durch spezifische Besonderheiten des KFZ, Mangelhaftigkeit seiner Funktionen oder Verstöße gegen die StVO erhöht.

Da sowohl das Landgericht als auch die Parteien regelmäßig vom Verschuldensnachweis sprechen, sei erneut darauf hingewiesen, dass es weder für die Erfüllung des Tatbestands des § 7 StVG noch im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG auf Verschulden oder Mitverschulden ankommt. Der Verschuldensgrad des Fahrers ist nur in wenigen Fällen bei der Bewertung der Verursachungsanteile von Bedeutung, z.B. bei vorsätzlicher Begehung. Wesentlich für die Bewertung des Verursachungsbeitrags ist vielmehr, ob der Fahrer eine Sorgfaltspflicht verletzt hat; ob dies schuldhaft geschehen ist, ändert an der Gefährlichkeit des Verkehrsvorgangs nichts. Wenn der Fahrer am Steuer plötzlich und unvorhersehbar bewusstlos wird und sein Fahrzeug unkontrolliert weiterfährt, entfällt zwar ein Schuldvorwurf, objektiv liegt aber eine ganz erhebliche Mitverursachung vor. Es geht nur um das Maß der Schadensmitverursachung, nicht um das Mitverschulden (BGH 20.1.98 - VI ZR 59/97 - NJW 98, 1137; BGH 13.12.05 - VI ZR 68/04 - NJW 06, 896; BGH 1.12.09 - VI ZR 221/08 -; BGH 20.9.11 - VI ZR 282/10 -; zusammenfassend Schauseil MDR 08, 360; Beispiele für Verschuldensberücksichtigung: Todsünden des § 315c Abs. 1 Nr. 2 StGB „grob verkehrswidrig und rücksichtlos“).

Im Fall der Kollision von zwei KFZ ohne besondere Umstände und ohne weitere Aufklärbarkeit ergibt sich deshalb eine Haftungsquote von 50% für jeden Halter, unabhängig davon, wer Klage erhebt. Denn da beide mangels Nachweises eines unabwendbaren Ereignisses als Gesamtschuldner gemäß § 840 Abs. 1 BGB in vollem Umfang haften, ergibt der fiktive Gesamtschuldnerausgleich nach den §§ 426 Abs. 1 BGB, 17 Abs. 1 StVG eine Haftung zu gleichen Anteilen (vgl. Jordan VersR 85, 316)."

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Allgemeines:


Zur verschuldensunabhängigen Halterhaftung

Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung

Bei ungeklärtem Sachverhalt hat aus der Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge Schadensteilung zu erfolgen, sofern kein Anscheinsbeweis zur Anwendung kommt.




OLG Nürnberg v. 23.11.2004:
Beweislastverteilung und Haftungsabwägung bei Unfällen zwischen motorisierten und nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern

LG Itzehoe v. 30.01.2007:
Haben beide Unfallbeteiligte fehlerhaft gehandelt, kann eine hälftige Haftungsverteilung angemessen sein. Dies gilt z. B. beim Überholen unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn, wenn der Entgegenkommende seine Geschwindigkeit nicht den Straßenverhältnissen angepasst hat.

LG Köln v. 29.09.2009:
Kann auf Grund der Örtlichkeit ausgehend von dem ungeklärten Ablauf eines Unfalls zwischen einem Pkw und einem Lkw keiner Seite ein Verkehrsverstoß im Sinne einer Vorfahrtsverletzung zur Last gelegt werden, führt die Bewertung der beiderseitigen Verursachungsanteile nach § 17 StVG unter Berücksichtigung aller Umstände zu einer Haftungsquote der LKW von 60 %, die sich aus der gegenüber dem PKW gesteigerten Betriebsgefahr des LKW ergibt.

OLG Frankfurt am Main v. 09.10.2012:
Im Fall der Kollision von zwei KFZ ohne besondere Umstände und ohne weitere Aufklärbarkeit ergibt sich eine Haftungsquote von 50% für jeden Halter, unabhängig davon, wer Klage erhebt. Denn da beide mangels Nachweises eines unabwendbaren Ereignisses als Gesamtschuldner gemäß § 840 Abs. 1 BGB in vollem Umfang haften, ergibt der fiktive Gesamtschuldnerausgleich nach den §§ 426 Abs. 1 BGB, 17 Abs. 1 StVG eine Haftung zu gleichen Anteilen.

AG Bad Segeberg v. 08.11.2012:
Streitet zu Lasten beider an einem Verkehrsunfall beteiligten Kraftfahrzeugführer ein Anscheinsbeweis für ein alleiniges Verschulden und vermag keiner der Unfallbeteiligten den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis zu widerlegen, ist regelmäßig eine Haftungsteilung vorzunehmen (entgegen OLG Dresden, Urt. v. 24. April 2002, 11 U 2948/01, Schaden-Praxis 2003, 304).

OLG München v. 24.07.2015:
Haben die Unfallparteien die zwischen ihnen streitigen Mitverursachungsbeiträge und in diesem Rahmen Mitverschuldensanteile nicht beweisen können und bleibt deshalb auch nach ergänzender Beweisaufnahme das Unfallgeschehen unaufgeklärt (hier: beide Parteien wollen jeweils gleichzeitig bei Grünlicht der ihre Fahrtrichtung freigebenden Lichtzeichenanlage in die Kreuzung eingefahren sein), kann im Rahmen des § 17 Abs. 1 und 2 StVG lediglich die ersichtlich gleichgewichtige Betriebsgefahr beider Fahrzeuge angesetzt werden, weshalb die Schadensersatzansprüche der Höhe nach auf hälftigen Ersatz beschränkt werden müssen.

OLG Koblenz v. 26.10.2015:
Ist es dem Gericht anhand der Ausführungen des Sachverständigen nicht möglich festzustellen, ob der streitgegenständliche Verkehrsunfall durch einen unachtsam vorgenommenen Fahrstreifenwechsel des einen Unfallbeteiligten oder durch Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes bzw. unaufmerksames Fahren des anderen Unfallbeteiligten verursacht worden ist, ist von einem sogenannten unaufklärbaren Verkehrsunfallgeschehen mit der Folge einer hälftigen Schadensverteilung auszugehen.

LG Stuttgart v. 24.02.2016:
Wenn bei einem beiderseits nicht unabwendbaren Verkehrsunfall bei keinem der beteiligten Fahrer ein Verschulden festzustellen ist, kann der vom Halter und Fahrer personenverschiedene Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs den Halter des anderen Fahrzeugs und dessen Haftpflichtversicherung dem Grunde nach auf Ersatz seines gesamten Schadens in Anspruch nehmen, weil es an einer gesetzlichen Zurechnungsnorm fehlt, wonach sich der Eigentümer die Betriebsgefahr des Halters zurechnen lassen müsste.

OLG München v. 30.10.2015:
Können mit unfallanalytischen Methoden und Erkenntnissen die gegensätzlichen Unfalldarstellungen der Parteien aufgelöst werden, sodass ein Kollisionsort auf der Fahrbahn des Klägers - und damit die Richtigkeit seiner Unfalldarstellung - als einzig mit technischen Regeln und Naturgesetzen zu vereinbarendes Ergebnis ermittelt werden, so kann die beklagte Partei dem Kläger im Rahmen der Abwägung nach § 17 I, II StVG lediglich die Betriebsgefahr seines Fahrzeugs entgegengehalten.

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Europarecht und Schadensteilung:


EuGH v. 17.03.2011:
Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug- Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht, Art. 2 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und Art. 1 der Dritten Richtlinie 90/232/EWG des Rates vom 14. Mai 1990 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die für den Fall, dass bei einem Zusammenstoß zweier Fahrzeuge Schäden entstanden sind, ohne dass einen der Fahrer ein Verschulden trifft, die Haftung für diese Schäden entsprechend dem Anteil aufteilt, zu dem die einzelnen Fahrzeuge zu den Schäden beigetragen haben, und bei Zweifeln in dieser Hinsicht festlegt, dass beide Fahrzeuge gleichermaßen zu den Schäden beigetragen haben.

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Schuldbekenntnis nach Unfall:


Schuldbekenntnis nach einem Unfall und Regulierungsverhalten und Zahlungen der Versicherung als deklaratorisches Schuldanerkenntnis?

LG Ansbach v. 20.10.2017:
Hat ein am Unfall beteiligter Fahrer vor Ort ein Schuldbekenntnis zu voller Haftung abgegeben, so trifft trotz Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens dem anderen Unfallbeteiligten keine Mithaftung.

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